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Kapitel 1

Jade

 

Unaufhaltsam dröhnte der unendliche Schmerz in meiner Brust – in meinem Herzen. Mein Körper war kalt und leer, nur ein dumpfes Pochen deutete daraufhin, dass ich noch lebte - gezwungenermaßen atmete. Nichts nahm ich wahr, nur diese unerträgliche Qual. Leise redeten Menschen auf mich ein, suchten nach Worten, schenkten mir eine sanfte Berührung. Ich hörte ihr Mitleid, hier und da ein Schluchzen, und spürte die bedauernden Blicke. Doch ich konnte nur auf das weiße Kreuz mit der goldenen Schrift starren.

 

Amy Lewis

21.8.1996 - 14.09.2015

 

Nur allmählich sickerte die entsetzliche Wahrheit in mein Bewusstsein. Amy, meine allesgeliebte Schwester, mein Zwilling, war tot. Kaltblütig ermordet, erstochen, von mir zu Asche verbrannt und für immer aus dem Leben gerissen. Das Bild, wie sie zu Staub zerfallen war, hatte sich in meine Seele gebrannt. Ihre toten Augen, die kalt und leer ins Nichts blickten, und ihr blutbesudelter Körper, der schlaff und leblos in meinen Armen lag. Ich würde es niemals vergessen. Die dunkle Macht in mir hatte sie zersetzt, sie für immer zerstört.

»Jade?«

Ich fühlte mich so hilflos und allein, verraten und hintergangen.

»Jade, Liebes, du sitzt hier schon den ganzen Morgen. Komm ins Haus. Einige Leute möchten sich von dir verabschieden.«

Wie aus weiter Ferne hörte ich Agnes‘ Stimme, die mich aus meinen Gedanken riss. Ihr Arm legte sich wie eine Decke um meine Schultern. Endlich klärte sich mein Blick und ich löste mich aus den dunklen Schatten der letzten Tage.

»Wenn sie fort sind, kannst du vielleicht ein wenig schlafen.«

Schlafen? Ich wünschte, ich könnte schlafen. Dann würde ich wenigstens nichts fühlen, für ein paar Stunden der Realität entfliehen. Mir war kalt, obwohl die Sonne schien. Hier auf Grace Island, Amys und meinem Zuhause, war immer Sommer. Sie hatte diese Jahreszeit geliebt.

»Matteo steht dort drüben. Er will sich von dir verabschieden«, sagte Marie neben mir und nickte in seine Richtung. Der Ex-Taluri stand etwas abseits von Amys Grab und blickte mich durch seine Sonnenbrille hindurch an. Neben ihm standen ein paar Sicherheitsleute.

»Ich will allein mit ihm sprechen«, sagte ich tonlos und ging ihm ein paar Schritte entgegen. Nervös zog er die Brille ab. In seinem Gesicht las ich Trauer und Schmerz, aber auch Härte und Entschlossenheit.

»Gehst du ein Stück mit mir?«, fragte ich ihn, ohne auf die Aufpasser zu achten, die mich seit dem Vorfall in Matteos Wohnung überallhin begleiteten. Langsam ging ich ein paar Schritte voraus, Matteo und die Typen folgten. Das Summen der Drohnen war zu hören und ich nahm den Flügelschlag der Maori-Krähen wahr. Als wir ein gutes Stück von Agnes und Marie entfernt stehenblieben, warf ich den Männern mit den dunklen Sonnenbrillen einen warnenden Blick zu. Sie spürten meinen Groll und wichen zähneknirschend zurück.

»Sie lassen mich kaum atmen«, erklärte ich Matteo flüsternd.

»Sie sind zu deinem Schutz hier.«

Ich lachte verächtlich. »Genau! Zu meinem Schutz!« Ich wusste genau, warum die Padres mich keinen Schritt mehr alleine machen ließen. Es war ihre Angst – vor mir.

In den letzten achtundvierzig Stunden war Matteo stets an meiner Seite gewesen. Er war einer der wenigen, der mich nicht mit mitleidigen Blicken bedachte. Er litt selbst wie ein Hund. Auch ohne viele Worte verstand ich ihn – er ließ mich trauern.

Ich blendete die Gorillas aus. »Wo wirst du hingehen, Matteo?«

»Ich gehe zu Leonardo nach Anizio«, antwortete er knapp. »Vielleicht kann ich bei ihm vergessen.« Er sah zu Boden und stieß einen kleinen Stein an.

»Vergessen? Können wir beide den schrecklichsten Tag überhaupt jemals vergessen? ... Das werden wir nie, und das dürfen wir auch nicht.«

Gequält warf er den Kopf in den Nacken und blickte gen Himmel. »Ich kann das nicht, Jade. Sie ist ständig in meinem Kopf. Mit ihr habe ich alles, was mir wichtig war, verloren.«

»Dann sind wir schon zwei«, sagte ich voller Bitterkeit.

Er seufzte und schwieg eine Weile. Meine Worte taten mir leid, aber genauso empfand ich es. Mein Leben war wertlos geworden.

»Leonardo und ich werden nach Pepe suchen«, schwenkte er plötzlich auf ein anderes Thema. Damit hatte er meine volle Aufmerksamkeit. »Ich fliege nach Anizio, dort werden Leo und ich uns beraten. Ich glaube, die Padres haben etwas Wichtiges übersehen. Der Junge kann doch nicht vom Erdboden verschluckt worden sein!«

Kurz sah ich zu den Gorillas und flüsterte: »Wie meinst du das?«

Auch Matteo senkte seine Stimme. Er wusste genau, dass unser Gespräch von den Typen hinter uns abgehört wurde. »Keine Ahnung. Irgendwie stimmt etwas nicht. Luca hat das von Anfang an gespürt.« Beim Klang seines Namens erschauderte ich. Niemand sprach mehr den Namen des Taluris aus, der Amy getötet hatte. Aber in diesem Punkt musste ich Matteo recht geben. Luca hatte auch immer an den Selbstmorden der beiden Taluris gezweifelt.

»Leonardo und ich werden Pepe finden, das verspreche ich dir. Ich werde nicht ruhen, bis ich die ganze Wahrheit herausgefunden habe. Das bin ich Amy schuldig.«

Ich kämpfte mit den Tränen, drängte sie aber tapfer zurück.

Matteo nahm meine Hände. »Egal, was die Wahrheit sein wird, wir müssen dafür sorgen, dass es endlich aufhört. Und bitte, Jade … dich trifft keine Schuld. Rede dir das nicht ein, okay?«

»Das sagst du so leicht. Du warst dabei, hast gesehen, was ... er und ich getan haben.«

Matteo umarmte mich. »Amy würde das nicht wollen.« Seine Worte sollten mich trösten, doch das taten sie nicht. Der Brocken war zu groß, zu schwer; er lag wie ein dicker, fetter Klumpen in meinem Magen.

Langsam löste ich mich aus seiner Umarmung. »Ich komme schon klar … irgendwie. Pass auf dich auf.«

»Das werde ich, mach dir um mich keine Sorgen.« Er kramte aus seiner Jeans einen Zettel hervor und reichte ihn mir. »Falls du Hilfe brauchst, hier kannst du mich immer erreichen.«

»Das wird schwer, ich kann von der Insel aus nicht telefonieren. Du weißt, dass hier alles abgeschottet und gefiltert wird.«

Er nickte und warf einen Blick zu den Männern, die ungeduldig von einem Fuß auf den anderen traten. »Du wirst einen Weg finden, mich zu erreichen, wenn du Hilfe brauchst.« Dann küsste er mich auf die Stirn und hielt einen kurzen Moment inne. Ich schloss meine Augen, bis er mich losließ. »Bis bald, Matteo«, flüsterte ich. Dann hörte ich nur noch, wie die Kieselsteine unter seinen Stiefeln knirschten, bis das Geräusch immer leiser wurde und er schließlich fort war. Ich sah ihm nicht nach, sondern starrte aufs offene Meer. Mein Leben war völlig aus den Fugen geraten. Ich litt unter dem Verlust meiner Schwester, hatte Angst um Pepe, von dem immer noch jede Spur fehlte, und spürte die Feindseligkeit der Menschen, die mich eigentlich beschützen sollten. Die Padres sahen mich als eine Bedrohung – sie hatten recht. Wem konnte ich noch vertrauen? Ich schaffte es noch nicht einmal, in den Spiegel zu sehen. Den Anblick konnte ich nicht ertragen.

»Johanna hat dir eine Brühe gemacht, vielleicht schaffst du es, ein paar Löffel zu dir zu nehmen?«, sagte Marie plötzlich neben mir.

»Ich will nichts essen«, erwiderte ich, ohne meinen Blick vom Meer abzuwenden.

»Du musst aber etwas essen, Jade. Dir wird schlecht werden, wenn Dr. Blackham dich wieder an die Infusion hängt. Na komm, ich bring dich zur Villa. Wenn du möchtest, kannst du später wieder herkommen.«

Wenn ich an die vielen Infusionen dachte, die in den letzten Tagen durch meinen Blutkreislauf gejagt worden waren, krampfte mein Magen und mein Handrücken schmerzte. Meine Haut war an Armen und Handgelenken von den vielen Stichen bereits grün und blau. Dr. Nussbaum und Dr. Blackham hatten entschieden, mich alle drei Stunden mit einem noch besseren Impfmittel zu versorgen. Nach dem letzten Ausbruch hatten die beiden Ärzte Tag und Nacht gearbeitet, bis sie glaubten, ein noch stärkeres und wirksameres Mittel gefunden zu haben. Sie entwickelten ein neues Verfahren, um die Wirksamkeit präziser einschätzen zu können. Die Padres hatten weder Kosten noch Mühen gescheut, um die ganze Ausrüstung aus dem Labor in Madrid zur Insel zu schaffen. So konnten sie eine engmaschige Überprüfung meines Zustandes und die Effektivität des Impfstoffes leichter beurteilen.

Mir war klar, dass ich nun eine Gefangene war. So schnell würden sie mich nicht gehen lassen. Aber wo sollte ich auch hin? Mir war nichts mehr geblieben, ab jetzt war ich völlig allein, meine Familie war komplett ausgelöscht.

Amy war gestern auf Grace Island beerdigt worden, gleich in der Nähe der Villa, auf einem einsamen Hügel der Insel. Viele Leute waren gekommen, um meiner Schwester die letzte Ehre zu erweisen. Die Illustri-Mädchen, alle Trainer und auch Mr. Zanolla, Jacques, die Nonnen Angela und Mali, einige Padres, Agnes und Ron und die meisten Taluris. Sie alle hatten mir helfen wollen, in dem sie mit netten Worten und Gesten ihr Beileid bekundeten.

Heute reisten die meisten wieder ab. Nur Marie, Agnes und Dr. Blackham würden hierbleiben – und die zehn Sicherheitsleute natürlich, die die Padres angeblich zu unserem Schutz einbestellt hatten. Ich fragte mich, wen sie beschützen sollten, denn eines war klar: Ich war die Bedrohung!

Marie, Agnes und ich betraten die Villa. Zum Glück blieben meine Bewacher draußen und ließen mich weitestgehend in Ruhe. »Ich werde uns einen Tee machen«, sagte Agnes und ging in die Küche, um Wasser aufzusetzen. Marie führte mich zum riesigen Sofa. Ich streifte mir die Schuhe von den Füßen und legte mich hin. Marie setzte sich neben mich. Ich war froh, wenigstens eine Vertraute bei mir zu haben. Professor Tramonti wollte vermeiden, dass ich mich auf der Insel als Gefangene fühlte, doch ich machte mir nichts vor. Ohne Begleitung durfte ich die Villa nicht verlassen und schon gar nicht in die Nähe von Quinns und Johannas Blockhütte auftauchen. Wenn ich mich im Freien aufhielt, kreisten mehr Drohnen als sonst über meinem Kopf und ich hörte das Flügelschlagen der Maori-Krähen. Aber darüber machte ich mir am wenigsten Gedanken. All meine Sorgen galten Pepe. Täglich wartete ich auf den erlösenden Anruf von Prof. Tramonti, der mich mit den neusten Informationen über die Ermittlungen versorgte. Jeden Tag hoffte ich auf positive Nachrichten, doch der Knirps blieb verschwunden und das schon seit sechs Tagen.

Eine heiße Spur hatten die Padres mittlerweile aufdecken können. Niemand bemerkte, dass Pepe sich heimlich hinausgeschlichen hatte, während Amy und Luca die sicheren Katakomben verließen, um ihre Sachen aus Matteos Wohnung zu holen. Pepe war ihnen still und leise gefolgt. Demnach war Luca der Letzte, der ihn gesehen hatte. Meine Hoffnung schwand mit jeder Stunde. Ich grübelte und tausend Spekulationen wirbelten durch meinen Kopf. Was könnte geschehen sein? Hatte der Junge vielleicht gesehen, wie meine Schwester getötet worden war? War er deshalb aus der Wohnung abgehauen und irrte jetzt verängstigt und traumatisiert durch die Straßen? An den besagten Abend, als auch Pepe verschwand, konnte ich mich nicht mehr genau erinnern. Ich stand völlig unter Schock, als ich begriff, was ich getan hatte. Nur die Erinnerung an mein schreckliches Handeln war geblieben. Marie hatte mir erzählt, dass Luca sofort von den Padres festgenommen und im Jero eingesperrt wurde. Stundenlang verhörten sie ihn, doch angeblich schwieg er und blieb unkooperativ.

Gleichgültig nahm ich Lucas Schicksal hin. Ich fühlte nichts, nur Angst und tiefe Trauer – für etwas anderes gab es im Augenblick keinen Platz. Besonders an Amys Grab spürte ich den Verlust und meine Schuld.

Das Telefon klingelte, sofort schreckte ich auf.

Marie nahm ab. »Hallo? ... Ja ... Ich werde es ihr sagen … Danke.« Sie legte auf. »Das war der Professor.« Langsam schüttelte sie den Kopf und ich ließ mich wieder in die Kissen fallen.

»Leider nichts Neues. Sie arbeiten weiter daran. Sie werden ihn schon finden«, versuchte sie mich zu beruhigen. Marie wusste genau wie ich, dass die Chance, ihn lebend zu finden, mit jedem weiteren Tag geringer wurde.

 

***

 

Am späten Nachmittag versammelte sich der Rest der Inselbesucher im Garten vor der Villa. Dr. Blackham hatte mir die Infusion verabreicht und danach war ich eingeschlafen. Jetzt begleitete mich Marie hinaus, damit ich mich von allen verabschieden konnte.

»Isch weiße nischt, was isch dire sagen kann, meine Mädschen, außer, dass isch immer füre disch da bine.« Jacques hielt mich fest in seinem Arm. »Vielleischt lassen sie disch zu uns, wenn mit dir wiedere alles okay iste?«

Ich nickte und wischte mir eine Träne von der Wange.

»Dann werde isch disch bekochen, mon amour. Du wirste mire fehlen, oui!«

»Danke, dass du gekommen bist, Jacques. Das hat mir viel bedeutet.« Er hauchte mir einen Kuss auf die Wange und trat beiseite. Ein Illustri-Mädchen nach dem anderen verabschiedete sich von mir. Wortlos nahmen sie mich in den Arm, drückten mich fest.

»Du bist eine von uns, vergiss das nicht«, flüsterte mir Amber weinend ins Ohr. Sie machte Platz für Miku Lu.

»Wir werden mit den Padres reden. Sie können dich nicht ewig hier festhalten.«

»Ist schon in Ordnung, Miku. Nach allem, was passiert ist, ist das wohl das Beste.«

»Wir werden sehen.« Sie schien fest entschlossen. »Jedenfalls hoffe ich, dass es dir bald besser geht.«

»Danke.«

Lucia war an der Reihe. Sie schluchzte herzzerreißend. »Es tut mir so leid, Jade. Ich wollte nicht vor dir weinen, aber ich kann einfach nicht anders. Du bist so traurig und gleichzeitig so stark ...«

»Hey, weine nicht«, tröstete ich sie, »sonst fange ich auch gleich wieder an.« Eine Weile hielt ich sie im Arm, bis sie sich beruhigte. »Ich bin sehr froh, dass Marie bei dir bleiben darf.«

»Das bin ich auch.« Dankbar sah ich zu Marie und zwinkerte ihr zu.

Wortlos trat Ava vor. Ihre Augen waren gerötet und tiefe Schatten lagen darunter. Die Umstände von Amys Tod nahmen sie sehr mit. Sie blieb vor mir stehen, hielt meine Hände und schloss ihre Lider. Schweigend standen wir einen Moment so da. Damit erreichte sie mich mehr als mit tausend tröstenden Worten. Sie war einfach da. Still und fest umarmte sie mich. Gott! Es fiel mir so schwer, sie gehen zu lassen. In den Gesichtern der Mädchen sah ich Mitleid und Trauer. Es tat weh, meine Freundinnen so zu sehen. Ava trat beiseite und machte den Trainern und Mr. Zanolla Platz.

Deutlich spürte ich ihre Vorsicht und Unsicherheit mir gegenüber. Sie gaben sich zwar Mühe, mir die Hand zu reichen, aber sie hatten Angst. Auch Schwester Mali bekreuzigte sich ständig und vermied es, mich anzusehen. Nur Schwester Angela schüttelte verständnislos den Kopf, drängte sich vorbei und zog mich fest an sich. »Lass dich nicht unterkriegen, hörst du? Bleib stark und versuche, nicht den Kopf zu verlieren«, flüsterte sie mir Mut zu.

Wenn das nur so einfach wäre. In den letzten Tagen stand ich kurz davor durchzudrehen, igelte mich ein und wollte am liebsten nie wieder die Augen aufmachen.

»Ich werde mir Mühe geben«, antwortete ich halbherzig. Sie streichelte mir über die Wange. Froh, den Abschied endlich hinter mir zu haben, beobachteten Marie, Agnes, Dr. Blackham und ich, wie alle durch den Garten hinunter zur Bootsanlegestelle liefen. Die Mädchen winkten mir noch einmal zu.

»Ich fand es toll vom Professor, dass er mir erlaubt hat, bei dir zu bleiben«, meinte Marie.

»Ich bin auch sehr froh darüber.« Wir hörten die Motoren der Boote. Marie hakte sich bei mir unter und gemeinsam liefen wir zurück zur Villa.

»Auf eigene Gefahr, wohlgemerkt. Ich bin mir sicher, dass der Professor und dein zukünftiger Ehemann nicht ganz glücklich mit deiner Entscheidung waren.« Marie hatte den Professor regelrecht dazu überredet. Seine Gegenargumente lagen klar auf der Hand: Solange man nicht wusste, wie mein Körper reagierte, war das Risiko, dass es weitere Opfer geben könnte, zu groß. Die letzten Ereignisse hatten gezeigt, dass es unverantwortlich und äußerst riskant war, sich in meiner Nähe aufzuhalten.

Sie blieb stehen und sah mich geschockt an. »Daniel mag dich. Er würde dich nie verurteilen, Jade. Wie kommst du nur auf so eine Idee? Er unterstützt mich in allen Entscheidungen, die ich treffe.«

Ich zog die Augenbrauen hoch. War sie wirklich so leichtgläubig? Hatte Daniel keine Angst um sie? Sie war meine Freundin, aber trotzdem ging sie ein beachtliches Risiko ein. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ihr etwas zustoßen würde.

»Na, komm schon, Jade. Daniel weiß genau, dass mich in dieser Situation keine zehn Pferde von dir wegbringen würden.«

»Danke, Marie. Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde.«

»Wir stehen das gemeinsam durch. Dafür sind wir doch Freundinnen.« Sie umarmte mich fest und ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. »Ich weiß nicht, ob ich das alles aushalten kann«, schluchzte ich auf.

»Du wirst das schaffen, du darfst nur nicht aufgeben.«

»Das sagst du so leicht. Nichts ergibt mehr einen Sinn. Ich bin nicht stark genug, um das alles zu ertragen. Ich habe solche Angst um Pepe.« Ich zog die Nase hoch und wischte mir die Tränen aus den Augen.

»Sie werden ihn finden, bestimmt! Hab ein bisschen Vertrauen.« Marie entlockte mir ein Nicken und führte mich dann zurück zur Villa. Es war nicht leicht, weiterzuleben. Tag für Tag, Nacht für Nacht, mit all den schrecklichen Bildern in meinem Kopf.

Eine Stunde später lief der neue Wirkstoff bereits durch meine Adern. Dr. Blackham kontrollierte meinen Puls, während ich im Bett lag und dem Arzt dabei zusah. Er wirkte hochkonzentriert. Er hatte dichte, dunkle Augenbrauen und erst auf den zweiten Blick konnte man erkennen, dass er hellbraune, warme Augen hatte. Ich fragte mich, wie er wohl aussehen würde, wenn er keinen Vollbart hätte. Bestimmt würde er dann viel jünger wirken. Ich schätzte ihn älter als Dr. Nussbaum ein. Dr. Blackham hatte einen kleinen Bauch, trug meist braune Cordhosen und Hemden. Er erinnerte mich an so manche Lehrer, die Amy und ich auf der Highschool gehabt hatten.

»Dein Puls ist in Ordnung. Wie fühlst du dich?«, fragte der Brite und kritzelte etwas auf das Klemmbrett, das er immer mit sich trug.

»Ganz okay. Die Übelkeit ist nicht mehr so schlimm wie am Anfang.«

»Das ist gut. Deine Werte sind auch wieder im grünen Bereich und ich bin sehr zufrieden. Versuche, dich zu entspannen. Ich komme wieder, sobald die Infusion durchgelaufen ist.« Er stand auf.

»Dr. Blackham? Kann ich Sie etwas fragen?«

Er wandte sich wieder zu mir um. »Natürlich.«

Umständlich richtete ich mich auf und achtete darauf, dass die Infusion ungehindert weiterlaufen konnte. »Inwieweit können Sie garantieren, dass das, was passiert ist, sich nicht wiederholt? Ich will einfach sichergehen, dass ich niemanden hier auf der Insel verletze ... oder schlimmeres.«

Er bedachte mich mit einem langen Blick, räusperte sich und setzte sich dann wieder. Auf seiner Stirn bildeten sich Falten. »Jade, das kann ich dir leider nicht genau beantworten. Das neue Mittel wirkt, die gemessenen Werte sind alle in Ordnung. Aber was genau geschieht, wenn du wütend wirst, das vermag ich nicht abzuschätzen. Das kann niemand.«

»Also halten Sie es für möglich, dass es wieder passieren könnte?«

Offenbar hielt er es auf dem Stuhl nicht länger aus, denn er stand auf und lief zur Fensterfront. »Um ehrlich zu sein, sind Dr. Nussbaum und ich uns nicht ganz einig darüber. In deinem Fall ist das auch sehr schwierig, wir haben keinen Vergleich. Ein Illustri-Mädchen mit solcher Kraft gab es bisher nicht. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass dein Gen anders aufgebaut ist als bei den anderen Mädchen. Aber ... mach dir keine Sorgen, hier auf der Insel bist du gut aufgehoben.«

»Und was ist mit Marie, Agnes und den anderen Menschen, die hier leben? Und bedeutet das für mich, dass ich für immer hierbleiben muss?«

»Wäre das so schlimm für dich?« Sein Blick ruhte auf mir. War das der Plan, den die Padres für mich hatten? Ich war nicht in der Lage, ernsthaft darüber nachzudenken, trotzdem fühlte es sich so an. Bisher hatte meine Zukunft keinen Platz in meinen Gedanken gehabt – aber für immer auf der Insel zu bleiben? »Ich weiß nicht. Ich weiß überhaupt nicht, was das Beste ist.«

Er nickte und kam an mein Bett. »Hier bist du in Sicherheit. Die Insel wird geschützt, niemand kann hier eindringen.«

und niemand entkommen. War es nicht das, was er mir damit sagen wollte? Ich war eine Gefangene. »Und wenn ich irgendwann nicht mehr hierbleiben will?«

»Dann werden wir eine andere Lösung finden.« Er redete wie immer sehr freundlich, aber etwas in seiner Stimme verriet mir, dass er es nicht so meinte. Bisher hatte ich ihnen allen vertraut, aber seit Amy tot und Pepe verschwunden war, war ich mir nicht mehr sicher.

»Es wird alles gut werden. Solange du das Mittel bekommst, bin ich fest davon überzeugt.« Dr. Blackham musste meinen Unmut gespürt haben, denn er setzte ein breites Lächeln auf. »Denk nicht so viel nach, Jade. Hey, ich wollte es dir noch nicht verraten, aber ich denke, du wirst dich sehr freuen, wenn ich dir anvertraue, dass ich eine Lösung gefunden habe, damit du nicht mehr an den Tropf musst.«

Erstaunt sah ich auf. »Ehrlich? Und wie?«

Er verschränkte seine Hände hinterm Rücken und schwellte ein wenig seine Brust. »Ich konnte eine hochkonzentrierte Lösung des Mittels in Form einer Pille herstellen.« Gespannt auf meine Reaktion, grinste er.

»Wow! Ich bin beeindruckt. Und wann ist es soweit?«

»In ein, zwei Tagen, wenn du willst.«

Die Aussicht darauf, dass meine Arme heilen und die blauen Flecken verschwinden würden, erhellte tatsächlich meine Stimmung.

»Ich kann es kaum erwarten«, sagte ich, als der Doktor zur Tür ging. Er lächelte und verließ den Raum.

 

***

 

Drei Tage später brauchte ich keine Infusion mehr. Die Pille, die Dr. Blackham für mich optimiert hatte, schien zu funktionieren. Meine Werte blieben im grünen Bereich und ich hatte endlich die schreckliche Prozedur mit den Nadeln hinter mir. Wie durch ein Wunder waren die blauen Flecken auf meinen Armen und die Einstichstellen über Nacht verschwunden, was Dr. Blackham genauestens protokollierte. Nur ab und zu wachte ich schweißgebadet auf, geplagt von den Albträumen, die mich auch tagsüber verfolgten. Ich war erschöpft, mein Appetit kehrte nicht zurück und so langsam zeigten sich dunkle Schatten unter meinen Augen.

Marie und ich saßen auf Liegestühlen im Garten und hatten es uns gemütlich gemacht. Sie las mir aus ihrem Lieblingsliebesroman vor – ausgerechnet ein Liebesroman! Aber so schwiegen endlich die Stimmen in meinem Kopf und ich versuchte mich auf die Geschichte einzulassen.

 

Kurz hielt Jake inne. »Keine Angst, Blue. Lass es einfach geschehen«, flüsterte er mir leise zu. Je näher er mir kam, desto intensiver berauschte mich sein Duft. Meine Hände legten sich ganz automatisch auf seine Brust. In diesem Moment verlor ich mich in seinen Augen, fühlte seine Stärke und wusste, dass ich ihm vertrauen konnte.

Sein Blick ruhte auf meinen Lippen. Uns trennten nur noch wenige Zentimeter und in mir peitschte plötzlich ein unbändiges Verlangen auf. Das war der Moment, in dem ich nicht mehr in der Lage war, zu – Marie hörte mitten im Satz auf. »Das ist so schön, findest du nicht auch?«

»Ja, kann sein«, gab ich knapp zurück. Enttäuscht ließ sie das Buch sinken. »Du hast mir ja gar nicht zugehört!«

»Doch, das habe ich«, verteidigte ich mich. Es war mir unangenehm, denn ich wollte nicht zugeben, dass ich bei dieser Kussszene Lucas Gesicht vor Augen hatte. Mein Kopfkino war angesprungen und das, obwohl mir im Augenblick überhaupt nicht der Sinn nach Zärtlichkeiten stand.

»Oh, wie dumm von mir! Daran hatte ich nicht gedacht. Es tut mir leid, Jade. Ich wollte dich nicht ...«

»Schon gut, ist nicht schlimm. Du hast ja recht, es ist wirklich eine schöne Geschichte. Wie heißt denn das Buch?«

Marie las den Titel und den Autorennamen laut vor. »You & Me - Zwei Leben mit dir von Any Cherubim. Sie schreibt Liebesromane.« Als ich nicht auf ihre Schwärmerei reagierte, klappte sie das Buch zu und seufzte. »Sag mal, Jade, wie stehst du jetzt eigentlich zu Luca? Ich meine nach allem, was er getan hat? Du empfindest doch sicher nichts mehr für ihn, oder?«

Bei seinem Namen horchte ich auf. »Wie meinst du das?«

»Na ja, ich kann mir nicht vorstellen, dass du noch etwas für ihn empfindest.« Deutlich spürte ich Hitze, die mir ins Gesicht schoss. Sie traf genau meinen wunden Punkt. Ich hasste Luca, er war ein Mörder. Und ich liebte ihn, zumindest den Luca, mit dem ich noch vor wenigen Wochen glücklich gewesen war.

»Ich hoffe ja immer noch, dass er wenigstens verrät, wo Pepe ist. Wobei ich ja vermute, dass der arme Junge sich wirklich erschreckt hat und abgehauen ist. Aber die Padres werden ihn schon in die Mangel nehmen und irgendwann wird er es sagen. Schade nur, dass man ihn nicht der Polizei übergeben kann. Meinst du nicht?«

Ich konnte nicht anders und starrte Marie nur an. Was war nur in sie gefahren? Seit wann dachte sie so über Luca? Bisher hatte sie das Thema vermieden. Eigentlich hatten alle um mich herum dieses Thema vermieden.

»Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, dass er vielleicht weniger mit der Sache zu tun haben könnte, als wir alle denken?«

Marie stutzte und kräuselte ihre Stirn. »Was willst du damit sagen, Jade?« Ihr Unterton störte mich. Alle hatten Luca verurteilt. Ich auch, aber irgendwie war da dieser Funke Hoffnung, der mir Lucas Worte ins Gedächtnis holte.

»Keine Geheimnisse mehr, Luca. Schließ mich bitte nicht mehr aus.«

Er nickte einverstanden. »In Ordnung. Und du musst mir einfach mehr vertrauen.«

Vielleicht irrte ich mich, vielleicht wollte ich die Wahrheit auch nicht akzeptieren. Ja, ich hatte noch Gefühle für Luca, auch wenn das niemand verstehen konnte – ich am allerwenigsten.

Als von mir länger keine Antwort kam, machte Marie große Augen. »Jade! Was soll das heißen? Hast du vergessen, was ...«

»Nein!«, brauste ich auf. »Ich habe nichts vergessen. Ich will nicht darüber reden, in Ordnung?« Es tat mir leid. Marie war meine beste Freundin, vielleicht die einzige, die ich noch hatte. Aber dieses Thema war einfach noch zu heikel und ich war durcheinander. Wahrscheinlich war ich noch nicht einmal dazu fähig, meine Gefühle tatsächlich zu verstehen.

Ich versuchte zu lächeln und nahm ihr das Buch aus der Hand. »Früher hatte ich mehr Zeit zum Lesen. Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, was ich zuletzt gelesen habe«, lenkte ich sie auf ein anderes Thema.

Zum Glück ließ sich Marie auf den Wechsel ein. »Vielleicht solltest du wieder anfangen zu lesen. Es könnte dir helfen, für ein paar Stunden alles zu vergessen.«

Genervt setzte ich mich auf und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wieso wollen immer alle, dass ich vergesse, was geschehen ist? Das werde ich nie und will es auch nicht.« Leichter Ärger schwang in meiner Stimme mit, was Marie kurz innehalten ließ. »So meinte ich das ja auch nicht. Ich wünsche mir, dass du nicht den ganzen Tag über Amys Tod grübelst. Ein gutes Buch kann dich ablenken.« Sie hatte recht, aber ich wollte nicht über etwas anderes nachdenken. Das würde bedeuten, dass ich akzeptierte, was passiert war. Dazu war ich einfach noch nicht bereit.

Die Schiebetür des Wohnzimmers wurde geöffnet und Agnes betrat den Garten. »Jade?«

Ich sah zu ihr auf.

»Telefon! Der Professor möchte dich sprechen.« Sofort sprang ich von der Liege. Hoffnung keimte in mir auf, dass es endlich gute Neuigkeiten über Pepe geben würde. Schnell lief ich zu ihr ins Haus und nahm das Gespräch entgegen. Marie folgte mir.

»Ja? Hallo?«

»Hallo, Jade. Wie geht es dir?«

Ungeduldig antwortete ich. »Ganz okay. Haben Sie ihn gefunden?«

»Nein, noch nicht, aber wir haben eine Spur. Leider kann ich dir noch nichts Näheres berichten. Ich muss dich um noch mehr Geduld bitten.« Enttäuscht ließ ich meine Schultern sinken.

»Ich weiß, es ist viel verlangt, aber ich verspreche dir, wir werden alles tun, um so schnell wie möglich die Wahrheit herauszubekommen.« Sekunden vergingen, in denen wir beide nicht wussten, was wir sagen sollten. Ich seufzte.

»Ruhe dich aus, Jade, und überlass uns alles. Wir kümmern uns darum. Sobald es Neuigkeiten gibt, werde ich es dich wissen lassen.« Das war leichter gesagt, als getan. Die Warterei machte mich noch ganz verrückt. Wenn ich wenigstens eine Aufgabe hätte, die mich ablenken würde!

»Ich melde mich wieder. Bis dahin erhole dich, ja?«

»Ich werde mir Mühe geben.« Er hörte den Frust in meiner Stimme, ging aber nicht weiter darauf ein. Das tat er nie.

»Bis bald, Jade.«

»Ja, bis bald.« Ich drückte auf Auflegen und sah nachdenklich den Hörer in meiner Hand an.

»Und?«, kam es gleichzeitig aus Maries und Agnes` Mund. Beide blickten mich erwartungsvoll an.

»Der Professor hat gesagt, dass es eine Spur gibt. Mehr konnte er mir aber nicht verraten.«

Agnes setzte sich zu mir. »Das ist doch schon mal ein gutes Zeichen, Jade. Sie werden ihn finden, du wirst sehen. Und in der Zwischenzeit kannst du dich ausruhen.«

Ausruhen, ausruhen! Ich tat doch den ganzen Tag nichts anderes! Ich wusste, dass sie es alle nur gut meinten, aber ich würde mich wirklich besser fühlen, wenn ich aktiv etwas tun könnte.

Die Fürsorge der beiden und auch ihre Nähe wurden mir plötzlich zu viel. Ich stand auf. »Ich muss nachdenken. Bitte seid mir nicht böse, ich ... ich möchte allein sein.« Damit verließ ich das Wohnzimmer und ging in den Garten. Ich hörte noch, wie Marie zu Agnes sagte: »Lass sie! Wir müssen ihr Zeit geben.«

Ich wollte niemanden verletzen, aber ich brauchte einfach ein paar Augenblicke für mich. Sofort war das vertraute Summen der Bienen zu hören und zwei der Gorillas folgten mir. Ich ignorierte sie und lief durch den Garten. Eine unbändige Lust, loszurennen, überkam mich. Schnell lief ich über die Wiese. Das Gefühl der lockenden Freiheit durchdrang mich, mein Puls begann zu rasen und mit jedem Schritt spürte ich, wie mein Blut in Wallung geriet. Kurz warf ich einen Blick hinter mich. Die Gorillas in ihren schwarzen Anzügen riefen mir etwas zu, ich verstand sie jedoch nicht. Da packte mich der Freiheitsdrang und ich sprintete los.

Kapitel 2

Jade

 

So schnell ich konnte, rannte ich die kleine Böschung hinunter, die zum Grab meiner Schwester führte. Je schneller ich lief, desto mehr spürte ich meine Muskeln. Es tat so gut! Zum ersten Mal seit Langem nahm ich mich selbst wieder wahr. Mein Haar wirbelte wild durcheinander und meine Lungen füllten sich mit Sauerstoff. Die schrecklichen Bilder und Gedanken verblassten und endlich fühlte ich mich freier. Die Gorillas hinter mir hatten Mühe, mir zu folgen. Sie fluchten, während ich zum Grab hinauflief. Eigentlich hätte ich erwartet, dass sie mehr Kondition haben würden. Oben angekommen, sah ich hinter mich und grinste ihnen entgegen. Sie erreichten nach wenigen Metern atemlos den Gipfel. Einer der beiden lehnte sich gegen einen Baum und schnaufte wie eine Dampflok. Ich schüttelte den Kopf. Wie konnte jemand mit solch einer schlechten Kondition ernsthaft für meine Sicherheit sorgen wollen? Der Jüngere blieb bei seinem Partner stehen. Dieser fluchte immer noch. »Verdammt! Du weißt genau, dass dir das verboten wurde, Jade.«

Ich grinste ihm selbstgefällig ins Gesicht und hob eine Augenbraue. »Dann müsst ihr schneller werden.« Er murmelte etwas Unverständliches und ich war mir sicher, dass es nichts freundliches war. Ich wandte mich ab, ließ die beiden stehen und ging zum Grabstein. Sofort wurde es still in mir und leise dröhnte der Schmerz wieder auf. Mit der Hand fegte ich den Sand von der Grabplatte, den der Wind über die Mittagszeit darauf hinterlassen hatte. Als der weiße Marmor wieder glänzte und die Rosenblüten ordentlich lagen, erhob ich mich und lief langsam über den Kiesweg zur Klippe. Von dort aus hatte man einen wunderbaren Ausblick auf das offene Meer.

Die Gorillas folgten mir auch diesmal, aber sie hielten einen größeren Abstand. Tief sog ich die kühle Meeresluft ein und ließ meinen Blick über den Ozean schweifen. In der Sonne glitzerte die Wasseroberfläche und erinnerte mich an den Tag, als Luca und ich uns in der Trainingshalle versöhnt und ausgesprochen hatten. Ein Schauer fuhr mir den Rücken hinunter, wenn ich an ihn dachte. Deutlich spürte ich noch seine Lippen auf meiner Haut, erinnerte mich an seinen Duft und wie er sich in mir angefühlt hatte. Sofort schämte ich mich für meine Gefühle, unterdrückte sie und überließ meinem Verstand die Vorherrschaft. Luca war der Mörder meiner Schwester, ich hasste ihn. Ich verbannte ihn aus meinem Gedächtnis. Mein Körper versteifte sich und mir wurde kalt. Fröstelnd umschlang ich meine Mitte und machte mich langsam wieder auf den Rückweg.

Schweigend nahmen Agnes, Marie und ich unser Abendessen ein. Agnes war ungewöhnlich still. Sie wirkte müde. Sonst hatten die beiden immer wieder versucht, mich mit Belanglosigkeiten in ein Gespräch zu verwickeln. Diesmal stocherte ich appetitlos im Essen, bis Agnes ein deutliches Machtwort sprach. Sie ließ das Besteck sinken und sah mich ernst an. »Jade, so geht das einfach nicht weiter! Du musst dich dazu zwingen, etwas zu essen, auch wenn du keinen Hunger verspürst.« Ich seufzte und wollte schon die Augen verdrehen, als sie mir einen warnenden Blick zuwarf. »Ich meine das wirklich ernst, junge Dame. Ich habe viel Verständnis für dich, aber wenn ich zusehen muss, wie du jeden Tag immer weniger wirst und ...« Ihre Stimme brach und sie schluckte.

Marie und ich starrten sie verdutzt an. »Ich habe damals deiner Mutter versprochen, auf euch aufzupassen. Bei Amy habe ich versagt. Das darf mir nicht noch einmal passieren.« Ihre letzten Worte waren nur noch ein Flüstern, bevor sie in Tränen ausbrach.

»Versagt? Dass Amy tot ist, ist doch nicht deine Schuld! Wie kommst du nur darauf?«, sagte Marie, stand vom Tisch auf und lief zu ihr. So hatte ich Agnes noch nie gesehen. Klar, wir litten alle unter den Ereignissen, aber nie hätte ich gedacht, dass Agnes sich die Schuld an Amys Tod gab. Erst jetzt erkannte ich, wie schwer es für sie sein musste – hatte sie uns doch liebevoll aufgezogen und dafür gesorgt, dass aus uns offene und guterzogene junge Frauen geworden waren. Sie war stark und für uns wie eine Mutter gewesen. Alles, was sie getan hatte, hatte sie für uns getan. Sie jetzt hier weinen zu sehen, erschreckte mich.

»Niemand kann etwas dafür, dass das alles passiert ist«, tröstete Marie. Ich war wie erstarrt. Wieso gab sie sich die Schuld? Sie war nicht einmal dabei gewesen. Sie wischte sich über die Augen. »Es war nur ein kurzer Moment der Schwäche. Tut mir leid, ich ...«

»Das ist in Ordnung, Agnes. Aber du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen. Es ist schwer, das alles zu begreifen. Ich hab selbst noch nicht kapiert, dass Amy wirklich nicht mehr da ist.«

»Ich weiß, meine Süße. Ich habe einfach nur Angst um dich.«

Ich nickte. Angst hatte ich auch, aber viel mehr vor mir selbst. Um ihr aber zu zeigen, dass ich an mir arbeiten wollte, nahm ich die Gabel in die Hand und schaufelte mir die Nudeln und das Gemüse in den Mund.

Sie fing an zu lachen und schüttelte den Kopf. »Genau wie damals! Wenn Amy und du mal wieder nicht essen wolltet, habe ich euch mit einem besonderen Nachtisch bestochen. Genau wie du jetzt, habt ihr euch dann das Grünzeug in den Mund gestopft. Kannst du dich erinnern?«

Ich grinste und nickte kauend. Natürlich konnte ich mich erinnern. Agnes war immer um uns besorgt gewesen, wenn wir nicht mehr als die Hälfte unserer Portionen aufgegessen hatten. Die Stimmung am Tisch wurde lockerer und Agnes fing an, von früher zu erzählen. Geschichten, die ich schon in- und auswendig kannte. Ich hatte sie ja miterlebt. Aber ich hörte ihr gern zu und sofort waren die Bilder von Amy und mir als Kinder wieder farbenfroher und deutlicher in meinem Kopf. Es tat gut, über meine Schwester zu sprechen, so blieb sie allgegenwärtig und lebendig.

»Jade, ich möchte dir noch etwas sagen. Marie hat mir von eurem Gespräch heute Nachmittag erzählt.«

Verwundert sah ich zu Marie, die sofort eine entschuldigende Miene aufsetzte.

»Liebling, es ist ganz bestimmt nicht leicht, die Enttäuschung von Luca ...«

Oh nein! Was sollte das denn jetzt? »Du weißt schon, was ich dir sagen will, oder?«, unterbrach sie sich selbst.

Verwirrt sah ich zwischen den beiden hin und her. »Was?«

»Es ist normal, dass du dich nicht mit seiner Tat auseinandersetzen willst. Aber vergiss bitte nicht, was er getan hat, und vor allem, wer er vorher war.«

Was sollte das denn jetzt?

»Er hat dich für seinen teuflischen Plan benutzt, Jade.«

»Was Agnes damit sagen will, ist, dass du den Tod deiner Schwester und die Umstände noch nicht verdaut hast. Nur deshalb glaubst du, noch etwas für ihn zu empfinden. Du stehst quasi noch unter Schock. Wir verstehen dich.«

Ärger wallte in mir auf. »Ihr versteht mich? Ihr versteht gar nichts!«, brach es aus mir heraus. Sofort nahm ich mich und mein Temperament zurück und horchte in mich hinein, aus lauter Angst, etwas Schreckliches könnte geschehen. Mein Herz schlug etwas schneller, aber mehr war da nicht. Zum Glück!

»Die Zuneigung, die du noch für ihn empfindest, wird vorübergehen, sobald du anfängst, dich der Wahrheit zu stellen, Schatz.« Agnes kam zu mir, rückte den Stuhl neben mir zurecht und setzte sich. Sie legte einen Arm um mich, den ich am liebsten von mir geschubst hätte.

»Ich weiß einfach nicht, was ich glauben soll. Mein Luca hätte so etwas nie getan.«

»Er wollte, dass du ihm vertraust«, meinte Agnes.

»Du kennst ihn nicht. Er hat gelitten, sein ganzes Leben lang. Er wurde gefoltert, gezwungen, eine falsche Denkweise anzunehmen. Er war so dankbar für das neue Leben, das er mit mir verbringen wollte.« Es war das erste Mal seit Amys Tod, dass ich über ihn sprach. Die ganze Zeit über hatte ich versucht, ihn aus meinen Gedanken zu verbannen. Hatte er mir wirklich alles nur vorgespielt?

»Es muss unglaublich schwer sein für dich.« Agnes sah mich so mitfühlend an, als würde sie darauf warten, dass ich selbst dahinterkam, dass ich auf ihn hereingefallen war. Mein Herz weigerte sich, doch mein Verstand schrie mich an. Ich war hin- und hergerissen, bis ich wieder vor mir sah, was damals den radikalen Ausbruch in mir hervorgerufen hatte. Gedankenverloren starrte ich auf meinen Teller und hatte das Bild vor Augen, welches mich Nacht für Nacht aufschrecken ließ.

Das Blut meiner Schwester klebte an seinen Händen und an seinem Körper. Sein Blick ruhte düster auf mir und für einen kurzen Moment glaubte ich, ein dämonisches Grinsen zu sehen. Angewidert schluckte ich und unbändige Wut stieg in mir auf.

Ich schüttelte mich und tauchte aus dem Tagtraum wieder auf. Wahrscheinlich hatten Agnes und Marie recht. Ich durfte nicht an den früheren Luca denken. Tränen liefen über meine Wangen und es tat so furchtbar weh, aber in mir war noch dieser Funke, den ich nicht ignorieren konnte. Winzig klein und tief versteckt leuchtete er in meiner Seele. Er war wunderschön. Ein weiß-silbernes Licht, das so viel Wärme versprach.

»Er hat es zugegeben, Jade!«, flüsterte Marie und riss mich in die Wirklichkeit zurück.

Entsetzt sah ich zu ihr rüber. »Was? Wann?« Meine Augen brannten, erneut hatte ich Mühe, die Tränen zurückzuhalten.

»Wann das war, wissen wir nicht genau. Ich habe diese Information erstmal zurückgehalten, damit du etwas Zeit hast, um zu trauern.«

Der Funke drohte zu verglühen. Wieso hatten sie mir etwas so Wichtiges verschwiegen? Ruckartig stand ich auf, sodass der Stuhl umkippte. »Wieso habt ihr mir nichts gesagt?«

»Doch nur, damit ...«

»Agnes! Wie konntest du?«

»Es tut mir leid, Jade. Ich dachte, es wäre so das Beste für dich.«

Sprachlos und kopfschüttelnd schwirrten tausend Gedanken durch meinen Kopf. Ich war kaum in der Lage, klar zu denken, und suchte verzweifelt nach dem Funken, den ich nicht aufgeben wollte. »Was hat er gesagt?«

»Er hat seine Tat bei einem Verhör der Padres zugegeben. Genaueres weiß ich nicht. Bestimmt werden wir in den nächsten Tagen Näheres erfahren. Ach Jade, es tut mir alles so leid.« Marie und Agnes wollten mich trösten, doch ich hielt es nicht aus, brauchte Zeit. »Entschuldigt bitte, aber ich will allein sein.« Ich wandte mich ab und wollte die Treppen hinauflaufen. »Ich komme mit dir«, beeilte sich Marie zu sagen. Ich hob meine Hand. »Nein! Bitte, ich will allein sein.« Damit ließ ich sie stehen und ging.

 

***

 

Lange lag ich noch wach. Meine Tränen waren versiegt und ich starrte an die Zimmerdecke. Ich dachte an Bayville und an unsere Kindheit zurück. Amy war immer der Wildfang gewesen, mit ihr war es nie langweilig geworden. Wie oft hatte sie uns Streiche gespielt? Damals waren wir glücklich, auch wenn wir strenger erzogen wurden als andere Kinder. Wir hatten ein Zuhause und wurden geliebt. Was würde ich tun, um die Zeit zurückzudrehen? Jetzt war aus meinem Leben ein Scherbenhaufen geworden. Irgendwann übermannte mich die Müdigkeit und ich schlief ein.

Unruhig wälzte ich mich hin und her. Die Schrecksekunde, als ich erkannte, dass ich nur geträumt hatte, war nicht erleichternd, wie es sonst bei den meisten Träumen üblich war. Alles war Wirklichkeit. Die Luft war stickig im Zimmer und mir klebten die Haare nassgeschwitzt am Kopf. Ich warf das Laken von mir und stand auf. Es war bereits nach Mitternacht und in der Villa ruhig. Marie und Agnes schliefen bestimmt schon. Ich öffnete das Fenster. Von draußen strömte eine leichte, kühle Brise ins Zimmer. Es war eine laue Sommernacht, der Vollmond leuchtete und ließ den Garten in dunkelblauen Schatten erscheinen. Die Grillen zirpten und ich konnte das Meeresrauschen hören. Leise schlich ich mich aus dem Zimmer und ging in die Küche. Dort nahm ich mir eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank und schlenderte ins Wohnzimmer. Die Lamellenvorhänge waren zugezogen. Ich lief zur Fensterfront und öffnete die Schiebetür. Ich konnte nur hoffen, dass meine Aufpasser nicht alarmiert wurden. Hoffentlich löste ich keinen Alarm aus. Angestrengt lauschte ich, aber alles blieb ruhig. Nur die blöden Bienen begleiteten mich mit ihrem Summen auf Schritt und Tritt. Sobald ich stehen blieb, schwebten sie regungslos in der Luft. Sie überwachten jede Bewegung und sendeten die Daten zu Quinn in die Schaltzentrale und von dort aus wahrscheinlich auch zu den Padres nach Madrid. Ich sah zu den Scheißdingern hinauf und stellte mir vor, wie ein Gorilla der Padres gelangweilt die Bildschirme kontrollierte. Wie ich sie verabscheute! Ich hob meinen Arm und streckte den Mittelfinger aus. Keine Ahnung, was in mich gefahren war, doch ich spürte eine belustigte Genugtuung und fühlte mich Amy plötzlich so nahe.

Zufriedener lief ich barfuß über die Wiese, schenkte den Bienen keine Aufmerksamkeit mehr und setzte mich an den Holztisch, der nicht weit vom Pool entfernt stand. Es war angenehm hier draußen, aber meine Gedanken ruhten nicht. Ständig musste ich über Luca nachdenken. Ich wusste noch, was sein Blick in mir ausgelöst hatte, bevor sich die dunkle Gabe in mir ausgebreitet und meine Schwester vernichtet hatte. Er war kalt und eisig gewesen und dieses merkwürdige Lächeln auf seinen Lippen hatte mich so sehr eingenommen. Dieses Bild ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Schon damals am Strand, als er völlig apathisch ins Wasser gegangen war, war mir klar gewesen, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Später in Madrid, als wir uns versöhnten, versprach ich, nie wieder an ihm zu zweifeln. Doch er hatte alles geplant – das war offensichtlich!

Luca war trotzdem der einfühlsamste, stärkste und intelligenteste Mann, den ich je gekannt hatte. Ich dachte an sein Lachen und an seine Berührungen und an Versprechungen, die er mir gegeben hatte.

Ein Krächzen erschreckte mich. Ich sah in den Nachthimmel und entdeckte eine schwarze Krähe, die über mir kreiste. Die Drohnen flogen auseinander. Sie hatten den Vogel im Visier, der mit den Flügeln schwingend auf dem Tisch landete. Erst jetzt erkannte ich ihn.

»Gavin? Alter Junge!« Ein Glücksgefühl schlich sich in meine Brust. Dass sich die Maoris auf der Insel aufhielten, war mir bekannt, aber dass auch Gavin unter den Krähen war, wusste ich nicht. Umso mehr freute ich mich. Am liebsten hätte ich ihn gestreichelt, so wie Luca es oft getan hatte. Sein riesiger Körper war schwarz wie die Nacht und das Mondlicht ließ einige Federn blau schimmern. An seinem rechten Fuß erkannte ich den Spy. Er blinkte zum Glück nicht rot. Neugierig neigte er immer wieder seinen Kopf und blickte mich an. Ein gedämpftes Gurren war zu hören. Vorsichtig tapste er über die Tischplatte. Behutsam streckte ich meine Hand aus und wartete darauf, dass er noch näher kam, damit ich ihn berühren konnte. Es war ein unglaubliches Gefühl, seine zarten und doch so starken Federn zwischen meinen Fingern zu spüren. Sanft streichelte ich über seinen linken Flügel und arbeitete mich weiter an sein Köpfchen vor.

»Wo warst du nur? Ich habe dich vermisst«, sagte ich leise. Gavin hielt ganz still und genoss meine Streicheleinheiten. Dabei schloss er seine Augen und ich konnte fast nicht glauben, wie er auf mich reagierte. Innerlich schrie ich vor Freude auf und wünschte mir, Luca könnte es sehen. Kaum hatte ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, stockte ich. Mist! Schon wieder ertappte ich mich dabei, dass ich den Taluri noch als meinen Freund sah.

»Weißt du, ich fühle mich hin- und hergerissen. Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Einerseits habe ich Luca dort gesehen, in Matteos Wohnung, und andererseits würde er doch nie ...« Die Krähe gurrte leise. Ich zog meine Hand zurück und betrachtete nachdenklich den schönen Vogel vor mir. Je länger ich Gavins Gurren zuhörte und über Luca nachdachte, desto mehr sickerte das Gefühl in mir, dass ich herausfinden musste, was dahintersteckte. Aber wie? Ich saß auf dieser Insel fest. Wie sollte ich an irgendwelche Informationen kommen?

Gavin hob sein rechtes Bein. Vielleicht war er müde? Ich hatte schon mal beobachtet, dass er sich aufplusterte, seinen Kopf um hundertachtzig Grad drehte und seinen Schnabel in seinem Rücken vergrub. Doch diesmal bauschte er seine Federn nicht auf, sondern hob immer wieder sein Bein. Ich runzelte die Stirn. »Bist du müde, alter Freund?« Natürlich antwortete er nicht, aber er knabberte vorsichtig an meiner Fingerkuppe. Dieses Verhalten kannte ich nicht von ihm. Wieder streifte sein Schnabel meinen Finger, dabei hob er sein Bein. Als ich nicht reagierte, krächzte er etwas lauter und wiederholte seine Bewegungen. Er tippte auf meinen Finger und hob abermals sein rechtes Bein.

»Was willst du mir denn sagen?« Jetzt sah ich mir sein Bein genauer an. Wollte er etwa, dass ich seinen Spy löste? Aber wie sollte ich das machen? Das Ding war mit seinem Körper verbunden. Zögerlich berührte ich den dunklen Kasten und Gavin schien zufrieden, denn er gurrte wieder leise. Ich öffnete das Kästchen und ein silberner Chip glänzte im Licht des Mondes. Ich hielt den Atem an, während ich ihn vorsichtig herausnahm. Der Chip war kaum größer als ein Cent, aber er war eckig und sehr flach. Ich schloss den Spy wieder. Wollte der Vogel wirklich, dass ich ihn an mich nahm? Noch bevor ich reagieren konnte, flog Gavin mit einem lauten Krächzen davon. Ich sah ihm nach, bis ihn die Dunkelheit verschluckte.

Der silberne Chip in meiner Hand glänzte. Die Drohnen über mir summten und hatten bestimmt alles aufgezeichnet, doch meine Neugier gehörte dem metallenen Plättchen in meiner Hand. Was enthielt er für Daten? Eine Weile sah ich das Ding an, bis ich mich dazu entschloss, es herauszufinden.

 

***

 

Mit eiligem Schritt betrat ich die Villa, zog die Schiebetür zu und schloss die elektronischen Spione aus. Ich schaltete kein Licht ein, sondern lief im Dunkeln direkt in das Büro, das sich gegenüber dem Flur befand. Diesen Raum hatte ich nur einmal kurz gesehen, als ich mit Amy zusammen die Villa inspiziert hatte. Damals hatten wir gerade erfahren, dass unsere Eltern uns das Haus und auch die Insel vermacht hatten.

In der Mitte war ein großer Schreibtisch, auf dem eine kleine Tischlampe stand. Die knipste ich an. Meine Augen brauchten eine Weile, bis sie sich an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatten. Ich setzte mich in den ledernen Sessel, klappte den Laptop auf und schaltete ihn ein. Ich erinnerte mich, dass Luca Gavins Chip in einen seitlichen Schlitz gelegt und die Lade dann geschlossen hatte. Doch welchen Knopf musste ich drücken, damit die Minilade sich öffnete? Ich probierte alle Möglichkeiten aus und fand schließlich die richtige Taste.

Meine Finger kribbelten, als der Motor des Computers zu arbeiten anfing. Ein Fenster blitzte auf und ein Cursor blinkte genau an der Stelle, an der ich nun ein Passwort eingeben sollte.

Shit, ein Passwort?! Ich kannte es natürlich nicht, aber wenn ich wissen wollte, was auf dem Chip zu sehen war, dann musste ich es versuchen. Ich gab GAVIN ein. Nichts geschah. Ich probierte es mit LUCA. Ohne Erfolg. Ich wurde unruhig. Ich hatte Luca nie nach dem Passwort gefragt. Immer wenn wir uns Gavins Aufnahmen angesehen hatten, hatte Luca sich darum gekümmert. Ich wurde nervös, versuchte ruhig zu bleiben und dachte nach. Mehrmals gab ich Worte ein, die für Luca eine Bedeutung hatten.

 

DE NON DELLI

TALURI

ILLUSTRI

ROM

MORGION

RABAS

PEPE

MEA SUNA Klick!

 

Das Bild wurde schwarz und plötzlich erschien eine Liste mit Daten. Fast hätte ich einen Jubelschrei von mir gegeben, als sich endlich ein weiteres Fenster öffnete. Aufmerksam sah ich die Liste genauer an. Alle Aufnahmen, die Gavin in den letzten fünf Monaten gemacht hatte, waren abgespeichert. Ich klickte auf die letzte Aufnahme und nach ein paar Sekunden sah ich Grace Island aus der Vogelperspektive. Marie und ich lagen auf dem Liegestuhl. Dann kam sogar eine Nahaufnahme, wie ich den Hügel hinaufrannte und die Gorillas mir im Hintergrund folgten und kaum hinterherkamen.

Ich beendete das Video und war sofort wieder in der Auswahlliste. Plötzlich stockte mein Atem. Mein Herz blieb fast stehen, als ich ein bestimmtes Datum erblickte. Das konnte doch nicht sein! Als ich die Uhrzeit des Videos sah, presste ich meine Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien. Oh. Mein. Gott!

 

Madrid, Calle de San Pedro 14.09.2015 16.08 Uhr

 

In dieser Straße befand sich Matteos Wohnung und es war der Tag, an dem Amy ermordet worden war. Mein Mund wurde staubtrocken und ich begann zu zittern. Hatte Gavin etwa den Mord aufgezeichnet? Mein Magen drehte sich um. Nervös stand ich vom Ledersessel auf, lief im Zimmer auf und ab. Was sollte ich tun? Das Video ansehen? Ich war völlig durcheinander, war mir nicht sicher, ob ich das schaffen würde. Was, wenn ich Amy sehen würde, wie sie ...? Ihre letzten Sekunden? Was, wenn da zu sehen war, wie Luca sie ...? Mein Gott! Ich war mir nicht sicher, ob ich ihre Schreie ertragen konnte.

Sicher war nur, dass Gavin wollte, dass ich ihm den Chip entnehme. Der Gedanke, dass in diesem Video die Wahrheit zu finden war, ließ mir keine Ruhe. Ich hatte schon viel Grausames erlebt, aber die eigene Schwester sterben zu sehen, übertraf alles.

Mein Blick huschte immer wieder zum Laptop. Angst kroch durch meine Eingeweide, denn genau in diesem Augenblick hatte ich mich im Grunde schon entschieden. Wenn ich die Wahrheit wissen wollte, führte kein Weg daran vorbei, mir anzuschauen, was genau geschehen war.

Kapitel 3

Jade

 

Aus der Bar im Wohnzimmer nahm ich eine Flasche Whiskey und schenkte mir einen Schluck ein. Alkohol war noch nie mein Ding gewesen, aber in Anbetracht der Lage brauchte ich das Zeug jetzt. Zögernd kippte ich die bernsteinfarbene Flüssigkeit hinunter, ohne großartig darüber nachzudenken. Ich verschluckte mich, keuchte und hustete. Es brannte wie Feuer und schmeckte scheußlich. Angewidert verzog ich das Gesicht und fühlte, wie sich Wärme in mir ausbreitete. Es dauerte eine Weile, bis sich mein Körper an den Geschmack und das Brennen in meiner Kehle gewöhnt hatte. Meine Güte! Was fanden alle an diesem Gesöff? Nur langsam entspannte ich mich und ließ den Alkohol wirken. Zu schnell jedoch verflog das wohltuende, wärmende Gefühl. Sofort nahm ich noch einen Schluck und diesmal verschluckte ich mich nicht. Mit der Flasche in der Hand machte ich mich auf den Weg zurück ins Büro.

Mit neuem Mut setzte ich mich an den Schreibtisch, schloss die Augen und wartete, bis sich der Gefühlssturm in mir legte. Tröstende Stille umfing mich, je länger ich völlig regungslos dasaß. Ich zitterte noch immer, aber der Drang zu wissen, was geschehen war, war plötzlich so viel stärker. Zitternd und bebend zögerte ich noch einen Moment. Ich hielt inne. Die schrecklichsten Horrorgedanken rasten durch meinen Kopf. Aber nur so würde ich die Wahrheit erfahren und endlich wissen, wie Amy ermordet worden war. Ich bebte, atmete viel zu schnell. Mein Finger schwebte über der Entertaste. Ich schluckte den dicken Kloß hinunter, schloss die Augen und suchte den Mut, der noch vor ein paar Sekunden die Oberhand in mir hatte. Verdammt, ich konnte es nicht! Abrupt stand ich wieder auf und kämpfte gegen meine Angst. Tränen liefen über mein Gesicht, die ich mit einer wütenden Handbewegung von meinen Wangen wischte. »Sei stark, Jade! Tu es für Amy«, flüsterte ich mir selbst wie ein Mantra zu. Mein Magen krampfte. Aufgewühlt und um Fassung ringend beugte ich mich und hielt meinen Bauch.

Mit neuem Mut setzte ich mich an den Schreibtisch und wartete, bis sich der Gefühlssturm in mir legte. Tröstende Stille umfing mich, je länger ich völlig regungslos da saß. Ich zitterte noch immer, aber der Drang zu wissen, wie es geschehen war, war plötzlich so viel stärker. Angespannt hielt ich noch einen Moment inne und betätigte dann die Entertaste.

Ich sah, wie Gavin über das Museo del Prado, über die Köpfe der Museumsbesucher hinweg und zur Rückseite des Gebäudes flog. Er landete auf einem Ast und schien dort auf etwas zu warten. Es dauerte auch nicht lange, bis eine Tür geöffnet wurde und ich Luca und Amy herauskommen sah. Die beiden schauten sich um und liefen die Straße hinunter, während Gavin im Baum sitzen blieb. Ein weiteres Mal öffnete sich die große Metalltür und ein kleiner Rotschopf stahl sich aus dem Haus – Pepe. Mit klopfendem Herzen sah ich, wie der Knirps sich aus den Katakomben schlich und Luca heimlich folgte. Die Krähe flog weiter, behielt die Drei im Fokus. In der Nähe von Matteos Wohnung hielt Luca plötzlich an. Ich konnte nicht genau erkennen, was der Grund war. Wahrscheinlich hatte er jetzt bemerkt, dass er von Pepe verfolgt wurde.

In den darauffolgenden Sekunden erwischte er den Jungen. Deutlich konnte ich sehen, wie Luca auf ihn einredete und nach dem Handy in seiner Hosentasche griff. Ich konnte mich erinnern, dass Luca, seiner Aussage nach, mehrfach versucht hatte, den Professor telefonisch zu erreichen. Also das schien wohl zu stimmen. Luca fuhr sich durchs Haar und stemmte seine Hände in die Hüften. Jetzt mischte sich Amy ein und diskutierte mit ihm. Gavin landete auf einer Dachrinne, während Luca scheinbar überlegte, was er tun sollte. Zu gern hätte ich erfahren, was er zu Amy gesagt hatte. Tatsächlich beschloss er, Pepe mitzunehmen.

Die Drei machten sich auf den Weg zu Matteos Wohnung. Als sie das Haus erreichten, knabberte ich auf meinem Fingernagel. Meine Neugier war inzwischen so groß, dass ich gebannt auf den Bildschirm blickte und mich sogar kaum traute zu blinzeln, aus Angst, ein wichtiges Detail zu übersehen. Sie betraten das Haus. Gavin flog auf einen Ast, direkt vor das große Fenster zum Wohnzimmer. Es dauerte nicht lange, dann sah ich Pepe, der sich auf das Sofa setzte. Luca blieb neben der Anrichte stehen. Er redete mit Amy, rief ihr etwas zu. Sie war nirgends zu sehen. Ich beobachtete Luca genau. Es war nichts Ungewöhnliches an ihm. Er war ruhig und gelassen, sprach jetzt mit Pepe. Keine Spur eines Plans, keine Nervosität oder Angespanntheit, die darauf deuten könnte, dass er etwas vorhatte. Er lächelte sogar und schien völlig normal.

Amy tauchte mit einer Reisetasche auf und stellte sie auf dem Sofa neben Pepe ab. Mein Hals schnürte sich zu, als ich meine Schwester im Wohnzimmer stehen sah. Ich musste mir auf die Zunge beißen, um nicht laut loszuweinen. Sie war so lebendig und noch so jung ... Es sollten ihre letzten Minuten sein. Plötzlich wurde das Bild unscharf und grieselte. Für einen kurzen Moment wurde der Bildschirm schwarz und ich konnte nichts mehr sehen. Es grieselte wieder, dann wurde alles normal angezeigt. Wahrscheinlich ein Übertragungsfehler. Gavin hatte seinen Standort gewechselt. Jetzt saß er nicht mehr auf dem Ast, sondern auf einer Fensterbank, die den Blick vom Hausflur zur Wohnung freigab. Luca öffnete die Wohnungstür. Seine Augen waren starr und leblos auf die Wand gerichtet, seine Bewegungen mechanisch. Mein Herz klopfte wild, als ich erkannte, dass jemand die Treppen hinaufkam.

Ein Junge. Er bewegte sich genauso monoton wie Luca. Zielstrebig lief er an Luca vorbei in den Flur. Zuerst schien Amy ihn zu ignorieren. Sie redete mit Luca und rüttelte Pepe, doch sie reagierten nicht. Verzweifelt begann sie zu schreien. Verwirrung und Angst zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab. Auf einmal stieß der Junge sie unnatürlich heftig, sodass sie auf das Sofa fiel. In ihren Augen spiegelte sich Panik. Sekunden vergingen, in denen ich nicht sehen konnte, was genau vor sich ging, doch dann tauchten sie wieder in Gavins Blickfeld auf. Irgendwie schaffte es Amy, ihre Hand auszustrecken und den Alarmknopf zu drücken, doch da zog der Junge ein Messer. Ich konnte die blitzende Klinge deutlich erkennen.

Obwohl es zu dem Video keinen Ton gab, hielt ich mir die Ohren zu. Hilflos musste ich mitansehen, wie das Kind das Messer mit voller Wucht in Amys Körper stach, während Luca und Pepe versteinert danebenstanden. Der mir fremde Junge stieß das Messer immer wieder mit unmenschlicher Kraft auf Amy nieder. Sie wehrte sich, doch er schien übernatürliche Stärke zu besitzen – sie hatte keine Chance. Ich fing an, hemmungslos zu weinen, hatte nichts mehr, um dagegenzuhalten. Ich erkannte die Angst und die Verzweiflung meiner Schwester, die sie in dem Augenblick gespürt haben musste. Meine Hände waren zu Fäusten geballt und am liebsten würde ich in den Verlauf des Filmes eingreifen. Ich nahm alles wie in Zeitlupe wahr.

Der Kampf war vorüber. Amy brach zusammen und fiel zu Boden. Die Kamera erfasste ihren leblosen Arm. Der kleine Mörder trat zurück, drückte Luca das Messer in die Hand und verließ ohne ein Wort die Wohnung. Luca blieb zurück, immer noch in dem Modus der absoluten Teilnahmslosigkeit. Sein Gesicht und sein Oberkörper waren blutverschmiert. Geschockt und entsetzt weinte ich, konnte nicht fassen, was ich gerade gesehen hatte. Amy war von einem Kind ermordet worden, während Luca und Pepe offensichtlich total weggetreten danebengestanden hatten!

Ein paar Sekunden später wurde das Bild gestört. Als das Video fast am Ende der Abspielzeit angekommen war, sah ich meine Schwester tot am Boden liegen und Luca, wie er langsam aus dem tranceähnlichen Zustand erwachte.

Ich keuchte und rang nach Atem, schrie aus den tiefsten Winkeln meiner Seele. Der Schmerz war unerträglich. Mein Gott! Die letzten Minuten von Amys Leben zu sehen, war mehr, als ich ertragen konnte. Blind vor Tränen wandte ich mich vom Schreibtisch ab und taumelte ans Fenster. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich riss das Fenster auf und sog wie eine Ertrinkende tief den Sauerstoff ein. Die Bilder konnte ich nicht mehr ertragen, versuchte sie aus meinem Gedächtnis zu verscheuchen. Es war zu spät. Sie hatten sich bereits in mein Bewusstsein gebrannt, wo sie mich für den Rest meines Lebens quälen konnten. Sie brannten sich auch in mein Herz. Nie würde ich sie vergessen können. Mit Amy war ein Teil von mir gestorben. Sie war mein Zwilling gewesen, mein Fleisch und Blut. Mit allem hatte ich gerechnet, sogar mit Lucas Schuld, aber niemals damit, dass ein Kind sie kalt und grausam erstochen hatte. Ein Junge, kaum älter als Pepe! Wie war das nur möglich?

Laut schluchzend hielt ich mich an der Schreibtischecke fest. Es dröhnte in meinen Ohren und es vergingen Minuten, bis sich mein Atem beruhigte.

Luca war unschuldig! Mein Herz hatte das immer gehofft, aber mein Verstand hatte sich geweigert, es zu glauben. Es hatte viel gegen ihn gesprochen. Die Padres mussten davon erfahren! Sein Geständnis war eine Lüge. Ich kannte nur noch einen Gedanken.

So schnell ich konnte, rannte ich die Stufen hinauf in Maries Zimmer. Ohne Rücksicht schaltete ich das Licht ein und eilte an ihr Bett. »Marie, Marie! Du musst aufwachen!« Ich rüttelte sie. »Bitte wach auf, es ist wichtig!«

»Was ist denn los?«, fragte sie verschlafen.

»Du musst aufwachen!« Endlich bewegte sie sich und wurde munterer. »Jade?« Sie setzte sich auf und kniff die Augen zusammen. Erst als sie mein aufgequollenes Gesicht sah, war sie plötzlich hellwach. »Jade! Um Gottes willen! Was .... was ist passiert?«

»Ich weiß, wer Amy getötet hat.«

Sekunden vergingen, in denen sie mich stirnrunzelnd ansah. »Was?«

Weinend setzte ich mich zu ihr.

»Sag mal, hast du getrunken, Jade? Du riechst wie ein Schnapsladen.« Natürlich roch sie den Whiskey. »Ich bin nicht

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Text: Copyright © 2016 Any Cherubim
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Editing: Lektorat/Korrektorat: Sandra Nyklasz/ Anja Horn
Publication Date: 02-25-2016
ISBN: 978-3-7396-3928-4

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