Sie läuft stetig weiter – die Zeit, unerbittlich, unbeeindruckt von Katastrophen und Geschehnissen des menschlichen Daseins. Sie lässt sich nicht abstellen, neu aufziehen oder anhalten. Man hat sogar den Eindruck, ihre Fahrt nimmt zu, mit jedem gelebten Jahr schreitet sie schneller voran.
Ich blicke zurück auf die breite Zeitspanne von 66 Jahren und denke: Das meiste hast du schon hinter dir, das wenigste bleibt dir noch. Ich suche nach Momenten, die in meinem Leben einmalig waren, nach Augenblicken des vollkommenen Glücks. Welche würde ich verewigen, wenn mir das möglich wäre?
Ich brauche nicht lange zu suchen, den ersten dieser Augenblicke habe ich sofort vor meinem inneren Auge und kann ihn fast ebenso stark nachfühlen, wie ich ihn damals, im Jahre 1969, empfunden habe.
Der 30. August – ein schöner, sonniger Herbsttag. Ich bin gerade auf die Ladefläche eines Lastwagens gestiegen. Meine beste Freundin sitzt bereits dort auf der Holzbank, mit Gepäck und Schultasche, an der Seite lehnt ihr zusammengeklapptes Feldbett. Ich stelle meins dazu und wir zwei grinsen uns an. Ich bin über alle Maße aufgewühlt, kann das Zittern kaum unterdrücken. Ein unglaubliches Gefühl steigt in mir hoch, ein Gefühl, das nur schwer in Worte zu fassen ist. Ein Gefühl der grenzenlosen Freiheit. Mir steht die Fahrt in ein neues Leben bevor, weg vom Dorf, weg vom Elternhaus, weg von etwas Dunklem, dessen Bedeutung ich damals noch nicht greifen konnte.
Ich bin frei, frei, frei!
Ich hätte diese Worte herausschreien, sie singen können! Ich hätte in diesem Moment fliegen können, wenn ich denn fliegen könnte. In diesem Moment war für mich alles möglich, die Zukunft schillerte vor mir in allen Regenbogenfarben und ich wusste – Ungeahntes und Aufregendes wartet auf mich.
Dabei ging es eigentlich um etwas fast Banalem – aus Sicht eines „normalen“ Menschen; ich wechselte bloß für die letzten zwei Jahre die Schule.
Der neue Schulort war 12 km von Schönfeld, meinem Heimatdorf in Westsibirien, entfernt. Für damalige Verhältnisse war das eine Entfernung, die nicht so einfach täglich hin- und zurückgelegt werden konnte. Es gab keine regelmäßigen Busverbindungen, und nur wenige Familien besaßen ein Auto, und auch wenn sie es besaßen, hatten die Väter keine Zeit, ihre Kinder zweimal am Tag zu fahren. So mussten sie für ihre Sprösslinge ein Quartier vor Ort besorgen. Ich hatte das Glück, dass meine Schwester Aneta mit ihrem kleinen Sohn in diesem Ort ein winziges Häuschen bewohnte, und so nahm sie vier Mädchen auf, darunter meine Freundin und mich.
Es war eine wundervolle Zeit. Zu sechst in nur zwei Räumen – Wohn/Schlafzimmer und Küche (nun versteht ihr auch, warum die Feldbetten) –, waren wir eine eng verbundene und unternehmungslustige Gemeinschaft.
Ich genoss meine Unabhängigkeit von den Eltern, die ausbleibenden Verpflichtungen, die vielen Bücher, die ich in der Bibliothek ausleihen und lesen konnte.
Auch die Depression hatte mich verlassen. Sie war in der Nähe, ich spürte ihre dunkle Anwesenheit, ihren Schatten, aber sie war nicht mehr in mir, beherrschte nicht mehr meine Seele, meine Gedanken. Sie beobachtete mich nur – aus der Ferne.
Diese zwei letzten Schuljahre in Moskalenki waren meinem Empfinden nach die Schönsten, obwohl ich den Anschluss in der neuen Klasse nie so richtig finden konnte. Aber ich war von zu Hause weg, und das zählte. Ich hatte richtig Spaß am Leben, am Herumalbern, Aufsätze schreiben, Beatles hören, an Kinobesuchen und vielem mehr. Deprimiert war ich, wenn ich wieder nach Hause ins Dorf musste – am Wochenende und in der Ferienzeit.
Meine Gedanken springen weiter – zu dem Moment, als im Sommer 1971 meine Liebeserklärung auf abenteuerliche Weise erwidert wurde. Es ist eine längere Geschichte und ich beschränke mich hier auf das Wesentliche.
In der neuen Schule kam es wie es kommen musste – ich hatte mich verliebt, dazu auch noch in meinen Physiklehrer. Es war eine heimliche Liebe – erst nach dem Abschluss schrieb ich ihm einen Brief und bat den Mathematiklehrer, ihm diesen zu überreichen. Ich selbst musste zurück ins Dorf, wo meine kranke Mutter Hilfe brauchte.
An dieser Stelle möchte ich gern aus meinem Buch zitieren, denn ich glaube, besser würde ich es nicht noch einmal in Worte fassen können.
„… Eines Freitagabends kam meine beste Freundin Frida zu mir, ihr Gesicht strahlte. Sie war natürlich im Bilde, was mein Gefühlsleben betraf.
„Ich habe einen Brief für dich“, verkündete sie feierlich und reichte mir einen Umschlag. Ich erkannte sofort die Handschrift von J. W. Aber wieso stand darauf Anetas Adresse in Moskalenki und als Empfänger Fridas Name? Allerdings sah ich sogleich auch das, was dahinter in Klammern stand: (для Розы Шиц) [für Rosa Schütz].
Frida erzählte, dass den Brief ihre Schwester mitgebracht hatte, die weiterhin bei Aneta wohnte und gerade eben fürs Wochenende nach Hause kam.
Meine Freundin ließ mich taktvoll allein, wofür ich ihr überhaupt nicht böse war. Zitternd öffnete ich den Umschlag und holte ein von beiden Seiten dicht beschriebenes Blatt Papier heraus …
Ich kannte den Text schon längst auswendig, las ihn trotzdem immer wieder und immer wieder – die kleinen, aneinandergereihten blauen Häkchen hatten etwas Besonderes in sich und zogen mich magisch an. Leise wiederholte ich den Namen Schenja [Kurzform von Jewgenij], der am Ende des Schreibens stand, und ließ ihn mir auf der Zunge zergehen. Für mich war es der schönste, der klangvollste Name der Welt.
In dieser Nacht war an Schlafen nicht zu denken. Ich lag die ganze Zeit wach, das Dunkel um mich herum schien sich aufgelöst zu haben. Zum zehnten, zum hundertsten Mal rief ich mir die wundervollen Worte ins Gedächtnis und konnte es kaum glauben, dass sie für mich bestimmt waren, für mich – ein unscheinbares, schüchternes Mädchen, das so wenig vom Leben erwartete und doch von so vielem träumte.
Jetzt wusste ich auch, warum es so lange mit seiner Antwort gedauert hatte. Unfassbar – der Umschlag mit meinem Brief war von dem Schulbibliothekar in einem Buch entdeckt worden, das zuvor der Mathelehrer ausgeliehen hatte. (Anscheinend steckte er ihn einfach achtlos zwischen die Buchseiten, um ihn darin völlig zu vergessen!). Da der Bibliothekar mit Jewgenij befreundet war und die Adresse von seinen Eltern in Omsk kannte, wo er die Ferien verbrachte, schickte er ihm den Brief zu. So kam meine Liebeserklärung doch noch an.
Ferner schrieb Schenja, dass er sich gut an mich erinnere, an das stille Mädchen aus der ersten Reihe, mit den klugen, oft traurigen Augen, dass er auch einige meiner Aufsätze gelesen habe, von denen die Russisch-Lehrerin immer so begeistert sprach. Er sei von meinen Gefühlen für ihn sehr überrascht und berührt, er ahne überhaupt nichts davon.
Der zentrale, der wichtigste Punkt seiner Botschaft war jedoch für mich – er möchte mir gern seine Freundschaft anbieten, und vielleicht … vielleicht könne daraus auch mehr werden. Ich war mir ganz sicher, dass daraus mehr werden würde, dies sagte mir wieder mein sechster Sinn.
Diese schlaflose Nacht war ein-einziges unendliches Glücksgefühl. Staunend dachte ich daran, welche Umwege doch unser beider Briefe machten, bevor sie den richtigen Adressaten erreicht hatten. Aber sie kamen an! Sie kamen an. Ich betrachtete es als Fügung des Schicksals. In Gedanken kreierte ich schon meine Antwort, die ich bei Tageslicht nur noch aufzuschreiben und abzuschicken brauchte …“
So fing meine Freundschaft mit Jewgenij Wladimirowitsch Ananitschew an (in Deutschland – Eugen Ananitschev) und es ist sicher nicht schwer zu erraten, wie sie sich entwickelt hat.
Und doch – nach 25 Ehejahren trennten sich unsere Wege. Das Schicksal, oder was auch immer es war, hatte es so entschieden. Trotzdem hatten wir bis zuletzt ein sehr gutes Verhältnis und volles Vertrauen zueinander. Im Grunde waren wir die allerbesten Freunde.
Nun sitze ich hier über diesen Zeilen, die Fotografie des so jungen Physiklehrers vor mir, und bekomme den dicken Kloß im Hals nicht heruntergeschluckt, die Tränen in den Augen nicht weggeblinzelt. Es schmerzt immer wieder aufs Neue, wenn ich an diesen außergewöhnlichen Menschen denke – meinen Ehemann und Vater zweier großartiger Kinder. Er fehlt mir, auch 15 Jahre nach seinem Tod fehlt er mir unendlich …
Glücksmomente meines Lebens … Nur zwei habe ich hier aufgeführt, aber sie waren die intensivsten meiner jungen Jahre und sie zeigten mir, wie wunderbar das Leben doch sein konnte. Ob ich damals gern die Zeit angehalten hätte? Nein, ganz sicher nicht. Im Gegenteil – ungeduldig wie ich war, fieberte ich weiteren Glücksmomenten entgegen und es ging mir nicht schnell genug, sie zu erfahren, die Liebe und all‘ ihre schönen Facetten zu erkunden. Aber sie wären es wert, dafür die Zeit für eine Weile stillstehen zu lassen. Sie wären es wert. Zweifelsohne.
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Text: Rosa Ananitschev
Cover: Bild von 99mimimi auf Pixabay
Publication Date: 11-18-2020
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