Mein erstes Buch bekam ich, als ich fünf Jahre alt war. Aus welchem Grund auch immer, in unserem Dorfladen gab es eines Tages Bilderbücher zu kaufen und Vater brachte mir eins mit. Es war „Das Märchen vom Fischer und dem Fischlein“ in Gedichtform von Alexander S. Puschkin und es war Liebe auf den ersten Blick: Die Liebe zum Buch, zum gedruckten Wort, zu einer fantastischen Welt, die mit diesen Worten so wunderbar beschrieben werden konnte, eine Liebe, die bis heute allen Widrigkeiten standgehalten hat.
Ich war von dem dünnen Heft mit den bunten Bildern überwältigt. Am Abend las Vater mir das Märchen vor, ebenso am nächsten. Auch am übernächsten wollte ich es unbedingt wieder hören. Bald lernte ich es auswendig, und es dauerte auch nicht allzu lange, bis ich mein geliebtes Buch selbst lesen konnte.
Was ist denn daran so besonders, einem Kind ein Märchen vorzulesen, könnte man fragen. Es gibt doch reichlich Kinderbücher – zu jedem Thema, für jedes Alter. Ja, das stimmt, aber man bedenke – dies geschah Ende der 50er Jahre in Russland und ich wuchs in einer streng baptistischen deutschen Familie in einem Dorf in Sibirien auf, wo außer Bibeln und religiöser Schriftstücke kaum andere Bücher geduldet wurden.
Die heiligen Schriften füllten unser Haus, denn neben seiner Arbeit im Kolchos (er war zuständig für das Separieren der Milch, dazu kamen natürlich noch die Feldarbeiten) restaurierte mein Vater in der Freizeit für die Gemeinde-Mitglieder – auch die der umliegenden Dörfer – die alten abgewetzten Bibeln und Liederbücher. Die deutschen Gläubigen in Russland hatten keine Möglichkeiten, neue Bibeln legal zu kaufen. In diesem atheistischen Land wurden sie nicht einmal in russischer Sprache gedruckt, geschweige denn in einer anderen. Manchmal wurden sie aus dem Ausland heimlich eingeführt, aber die meisten in Altdeutsch gedruckten Bibeln waren von den Siedlern aus ihrer alten Heimat mitgebracht worden. Sie stammten aus dem 18. oder 19. Jahrhundert und wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Mit der Zeit lösten sie sich unweigerlich auf. Wenn eine Bibel den Zustand erreicht hatte, in dem sie nicht mehr benutzt werden konnte, dann trat der Hobby-Buchbinder Jakob Schütz in Aktion.
Ich sah Vater gern zu, wie er liebevoll die dünnen, fast durchsichtigen, oft zerrissenen und ausgefransten Blätter reparierte, einen frischen, mit schwarzem Leder bezogenen Deckel herstellte, den Buchblock neu vernähte. Er verwendete dafür ein von ihm selbst konstruiertes spezielles Gerät. Der Schnitt wurde mit einem scharfen Messer nachgezogen und bekam noch einen feierlichen roten Anstrich. Zum Schluss wurde der Block eingebunden, sorgfältig verklebt und der fertige Band unter die Presse gelegt. Vom Ergebnis seiner Arbeit war ich immer schwer beeindruckt – das Buch sah wie neu aus und roch angenehm nach Leder und Farbe. Ein Manko wies es jedoch auf – Deckel und Rücken hatten keine eingeprägte Aufschrift wie sonst üblich, denn so etwas war mit einfachen Mitteln nicht zu bewerkstelligen.
Ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass ich die Bibelgeschichten nicht mochte, die Vater uns Kindern oft vorgelesen oder erzählt hatte. Aber für mich assoziierten sie sich auch noch mit allerlei Verboten, mit Leiden – und davon hatte ich in meinem kleinen Leben genug. Ich war ein stilles, ängstliches und trauriges Kind. Wenn ich heute mit den Augen eines Erwachsenen in die Vergangenheit blicke, weiß ich, warum dies so war, und das kleine Mädchen von damals tut mir unendlich leid. Es ist ein irrationales Gefühl – dieses Mädchen gibt es längst nicht mehr, es ist eine Frau geworden, die ihren Weg gegangen ist, die eigentlich immer erreichte, was sie erreichen wollte. Dennoch schmerzt mein Herz in Erinnerung an das, was war, und es kommt mir vor, als ob es vorgestern gewesen sei. Heutzutage ist es kein Geheimnis, dass auch Kinder depressiv sein können. Damals in Russland ahnte gewiss niemand so etwas. Aber ich denke, es ist das Schlimmste, das einem Kind widerfahren kann – sich des Lebens nicht freuen zu können, sondern den Wunsch zu haben, irgendwie irgendwohin daraus zu verschwinden.
Ich hatte natürlich keine Ahnung, dass meine ständige Niedergeschlagenheit, meine nagende Sehnsucht nach irgendetwas, das ich nicht definieren konnte, die Symptome einer Krankheit waren. Vielmehr war ich überzeugt, dass sich an meinem Zustand nichts ändern ließ: So war ich eben. Nicht einmal meine Eltern merkten, dass eine ihrer Töchter innerlich litt und hätten sie es bemerkt, hätten sie die Krankheit nicht benennen können.
Manchmal dachte ich: ’Wenn ich so bin, dann müssen sich doch alle Kinder so fühlen’, und es wunderte mich, dass ich dies nie an ihrem Verhalten, an ihren Gesichtern ablesen konnte.
Vielleicht stammte von daher meine Abneigung gegen die Bibel, gegen den Glauben? Gott konnte mir nicht helfen, dessen war ich mir sicher, und die in seinem Namen ausgesprochenen Verbote machten mein Leben noch trister. Ich durfte nicht ins Kino, durfte nicht tanzen gehen, ich durfte mich nicht nach der Mode kleiden und schon gar nicht durfte ich Hosen tragen, nur Röcke und Kleider, die unbedingt die Knie bedecken sollten.
Ich durfte dies nicht, ich durfte das nicht … und ich musste regelmäßig zum Gottesdienst … und ich weigerte mich immer wieder …
Meine Mutter weinte, mein Vater wurde laut, aber ich blieb unbeugsam, und irgendwann ließen sie mich in Ruhe. Der kleine Widder in mir gewann! Schon damals konnte man ihn schlecht zu irgendetwas zwingen.
Nun aber zurück zum Fischer und dem Fischlein. Ich weiß bis heute nicht, warum Vater auf die Idee kam, mir so ein Geschenk zu machen. Er ahnte nicht, was er damit angerichtet hatte! Es war der erste, von ihm selbst gelegte ‚Pflasterstein‘ auf dem Weg weit fort aus der Bibelwelt, etwas, das er mit Sicherheit nicht hatte erreichen wollen. Andererseits – gewiss hätte ich früher oder später diesen Weg ohnehin eingeschlagen.
Auch wenn meine Eltern mir aus freien Stücken kein Buch dieser Art mehr schenkten, mussten sie mir bald andere kaufen, ob sie wollten oder nicht, denn die Schulpflicht war nicht zu umgehen.
Was war das für eine Pracht – meine ersten Schulbücher! So schön neu und dick und bunt – noch viel besser als das dünne Heft mit dem Puschkin-Märchen. Schon lange vor dem 1. September hatte ich sie alle durchgelesen, mehrmals sogar, samt „Arithmetika“.
Die 1. Klasse kam mir dann ein bisschen langweilig vor, aber nur ein klitzekleines bisschen – ich ging immer sehr gern zur Schule. Das war für mich eine ganz andere Welt, in der ich mich viel wohler fühlte als zu Hause. Nicht zuletzt, weil ich da die Möglichkeit hatte, neuen Lesestoff zu bekommen. Obwohl man die spärliche Bücheransammlung kaum als Bibliothek bezeichnen konnte, gab es in der Grundschule jede Woche einen Büchertausch – und natürlich war die kleine Rosa die eifrigste Leserin. Es war wie Eintauchen in ein fremdes, aufregendes Leben und ich vergaß dabei mein eigenes.
In der 3. Klasse schrieb ich meinen ersten Aufsatz, der mit einer fetten roten 5 bewertet wurde (die beste Note in Russland). Ich weiß noch – es ging um Berufe und ich erzählte über meine Schwester Ida, die gerade ihre ersten Erfahrungen im Erwachsenenleben machte. Die Lehrerin fand meinen Text so außergewöhnlich, dass sie ihn vor der ganzen Klasse vorlas. So entdeckte ich schon ganz früh, wie viel Spaß das Schreiben machte. In all den Schuljahren, die folgten, bekam ich in Literatur und Russisch immer nur die Note ‚Ausgezeichnet‘.
Bei uns im Dorf gab es nur die Grundschule. Nach der vierten Klasse besuchten alle die Schule im Nachbardorf Heimtal (so hieß das Dorf vor der Revolution, danach wurde der Name einfach ins Russische übersetzt: Rodnaja Dolina), fünf Kilometer von daheim entfernt. In der Herbst- und Frühlingszeit war der Fußmarsch hin und zurück angesagt. Beneidet wurden dann diejenigen, die ein Fahrrad hatten. Einige Familien besaßen einen PKW oder Motorräder und wenn die Väter gerade Zeit erübrigen konnten, brachten sie ihre Kinder zur Schule oder holten sie ab. Im Winter wurde vom Kolchos für die Schüler eine Art Schulbus zur Verfügung gestellt – ein Lastwagen mit Plane. Die Plane hatte an den Seiten kleine Glasscheiben, die Ladefläche war mit Bänken ausgestattet.
In Heimtal gab es eine richtige Dorfbücherei, die ich natürlich so oft wie möglich besuchte. In dieser Zeit entdeckte ich für mich den Dichter Michail Lermontow. Ich war fasziniert von seinen Gedichten und besonders von dem Poem „Mcyri“ (Der Novize). Ich hätte damals so gern ein eigenes Exemplar von „Mcyri“ gehabt, um das Poem immer wieder lesen zu können, aber ich musste mich damit begnügen, die Verse in ein Heft abzuschreiben. Es klingt vermutlich lachhaft, aber so bescheiden verlief mein Leben nun mal vor vielen Jahren. Heute noch kann ich mir fast alle Strophen dieser poetischen Erzählung ins Gedächtnis rufen. Ich habe „Mcyri“ auch in Deutsch gelesen, aber mit dem Original kann sich die Übersetzung nicht messen.
Ich fühlte mich seelenverwandt mit Mcyri. Seine Qual war auch meine Qual, seine Sehnsucht auch die meine, denn wie er empfand ich mein Leben oft als Gefängnis.
Nun ja, die Zeit blieb nicht stehen. Ich musste erneut die Schule wechseln, da es in Heimtal nur acht Klassen gab. Die letzten zwei Jahre ging ich im Kreisstädtchen Moskalenki zur Schule. Der Ort war zwölf Kilometer von Schönfeld (russischer Name „Dobroje Pole“), meinem Heimatdorf, entfernt. Ein Klacks, würde man heute sagen, aber nicht für damalige Verhältnisse. Es gab keine regelmäßigen Busverbindungen und jeden Tag den Weg hin und zurück zu Fuß zu bewältigen war unmöglich. Wie schon oben erwähnt, besaßen nur wenige Familien ein Auto. Und selbst wenn sie es besaßen, hatten sie keine Zeit, zweimal täglich diese Strecke zurückzulegen. Deshalb mussten sie für ihre Kinder ein Quartier vor Ort besorgen. Für mich war das kein Problem, denn meine Schwester Aneta bewohnte in dem Städtchen mit ihrem kleinen Sohn ein Häuschen und nahm vier Mädchen auf – unsere Cousine, meine beste Freundin Frida, deren Schwester und mich.
Es war eine schöne Zeit. Zu sechst in nur zwei Räumen – Wohn/Schlafzimmer (mit Feldbetten, versteht sich) und Küche – waren wir eine eng verbundene Gemeinschaft.
Die Depression hatte mich verlassen. Sie war in der Nähe, ich spürte ihre dunkle Anwesenheit, ihren Schatten, aber sie war nicht mehr in mir, beherrschte nicht mehr meine Seele, meine Gedanken. Sie beobachtete mich nur – aus der Ferne. Irgendwann würde sie zurückkehren und erneut mit voller Wucht zuschlagen … aber das ist eine ganz andere Geschichte.
Vorerst genoss ich meine Freiheit, die vielen Bücher, die ich lesen konnte. Die Kontrolle der Eltern fiel ja weg. Endlich durfte ich auch die Erwachsenen-Romane in der Stadtbibliothek ausleihen. Ich las vor allem Klassiker, denn in der Zeit der fast totalen Zensur war es für die zeitgenössischen sowjetischen Schriftsteller nicht leicht durchzustarten. Dennoch gab es einige gute Autoren, die sehr populär waren. Auch nach Science-Fiction griff ich gierig. Vielleicht weil darin meist nicht die Gegenwart, sondern die Zukunft beschrieben war?
Was meine eigenen Zukunftspläne betraf, so war mir klar, dass ich auf Grund der politischen Gegebenheiten mit meiner schriftstellerischen Begabung nicht viel werde anfangen können, obwohl ich auch in der neuen Schule die Beste im Schreiben war. Vielleicht ist es aber auch gut, dass ich es gar nicht erst versuchte. Dafür wurde aus mir eine echte Bibliothekarin, die ihren Beruf sehr gern ausübt.
Ich heiratete früh. Schon mit achtzehn bekam ich meinen ersten Sohn, dennoch schaffte ich die Fernausbildung als Bibliothekarin mittlerer Qualifikation (in Deutschland als Assistentin an Bibliotheken anerkannt). Mit meinem Mann und dem kleinen Aljoscha (Alexej) zog ich in die Millionenstadt Omsk. Dort arbeitete ich achtzehn Jahre in wissenschaftlichen Bibliotheken – zuerst im polytechnischen Institut und dann in der Staatlichen Universität – eine lange Zeit, die zu beschreiben auf ein paar Seiten nicht möglich ist.
Heute empfinde ich diesen Lebensabschnitt als einen ständigen Kampf mit allem Möglichen – mit den Krankheiten der Kinder, eigenen psychischen Problemen, Problemen des Alltags. Aber für das Lesen eines Buches blieb immer Zeit, wenn auch nur für ein paar Zeilen zwischendurch oder für ein Kapitel vor dem Schlafengehen.
Allmählich bekamen wir auch Zugang zu den Übersetzungen der zeitgenössischen amerikanischen Autoren. Unter den ersten dieser Schriftsteller waren Stephen King und Arthur Hailey.
Von Stephen Kings Romanen war ich sofort angetan. Mich reizte in seinen Büchern die spannende Mischung aus Fantasy, Science-Fiction, Horror und dennoch viel Menschlichem. Auch heute noch freue ich mich immer auf seine Neuerscheinungen.
„Airport“ von Hailey … Die ersten Bilder der realen kapitalistischen Welt. Wie es schien, war sie gar nicht so böse und ungerecht, wie es den sowjetischen Bürgern immer vor Augen geführt wurde, sondern gerechter und humaner als der Sozialismus.
In der Bevölkerung kursierten auch einige verbotene Bücher, wie zum Beispiel „Archipel Gulag“ von Solschenizyn. Gedruckt wurde so etwas im Ausland, und auf welchen Wegen die Bücher dann nach Russland gelangten, blieb mir stets ein Rätsel.
Es nahte die Zeit der aufregenden politischen Veränderungen, die Perestroika war nicht mehr aufzuhalten. In den Geschäften fehlte es an allem, aber nicht das war das Schlimmste. Das gesamte Ausmaß der Grausamkeiten und Verbrechen unter Stalin trat zutage – und erschütterte die Menschen. Die Schlangen morgens an den Zeitungskiosken … sie waren fast ebenso lang, wie vor den Lebensmittelläden. Die Menschen … sie hungerten nach Informationen, nach der Wahrheit.
Endlich erfuhr auch meine Familie, was mit Großvater und Onkel geschehen war, die 1937 nachts vom NKWD verhaftet und fortgebracht wurden und die nie mehr zurückkehrten. Aber auch das ist wieder eine ganz andere Geschichte.
Uns stand die Reise nach Deutschland bevor, eine Reise ohne Rückticket. Die ersten Wochen und Monate im fremden Land – keine einfache Zeit, denn alles musste neu erlernt werden, im wahrsten Sinne des Wortes.
Warum überhaupt dieser Schritt, warum wollten wir Russland verlassen? In wenigen Worten zusammengefasst – mein Mann und ich wollten eine bessere Zukunft für unsere Kinder. Unser ältester Sohn sollte im Herbst einberufen werden – das konnten wir auf keinen Fall zulassen. In der Armee wäre er zugrunde gegangen. Der Jüngste litt an schwerem Asthma. Auch sehnte ich mich nach einem Leben unter Menschen, die Deutsch sprechen. Mein Unterbewusstsein sagte mir, dass ich hierher gehörte, dass Deutschland meine wahre Heimat sei. Wie schwer der Anfang auch war, ich habe es keine Minute bereut, diese Veränderung gewagt zu haben, keine einzige.
Nur eins bedauere ich zutiefst – vor der Ausreise verbrannte ich alle meine Tagebücher, die ich als Jugendliche geführt hatte. Dumm, sehr dumm von mir. Ich kann mir selbst nicht erklären, was mich dazu bewog, aber es ist nicht rückgängig zu machen.
Bemerkenswert: Im Sprachkurs, den ich als Aussiedlerin 1993 absolvierte, wiederholte sich die Geschichte aus meiner Grundschulzeit, als ich den ersten Aufsatz schrieb. Meine Leidenschaft für das Schreiben, die bis dahin vor sich hin schlummerte, erwachte wieder zum Leben. Ich war selbst überrascht, dass ich mich schriftlich auch in Deutsch gut ausdrücken konnte.
Der Sprachlehrerin fielen meine schriftlichen Arbeiten auf. Sie ermutigte mich, einen Schreibkurs zu besuchen und so nahm ich einige Semester lang an der Schreibwerkstatt der VHS teil. Es war für mich eine sehr gute Erfahrung.
Was mich jedoch häufig im Schreiben hemmte: Hin und wieder sollten die Kurs-Teilnehmer bereits in der laufenden Stunde einen Text zu einem vorgegebenen Thema verfassen. Für mich wurde das ein Problem, weil ich etwas mehr Zeit zum Nachdenken, zum Formulieren, zum Gestalten brauchte. Unter Druck schaffte ich das nicht. Irgendwann gab ich das Schreiben deshalb auf und wieder vergingen einige Jahre. Ich rechnete nicht damit, dass die Schreiblust mich je wieder ergreifen werde.
Was mein Berufsleben anging, so war ich in Deutschland lange Zeit als Putzfrau beschäftigt (leider das Schicksal der meisten Aussiedlerinnen). Es ist wohl gut nachzuvollziehen, dass es in dieser Hinsicht meine schlimmsten Jahre waren, nicht, weil ich solche Arbeit erniedrigend oder minderwertig fand – auch sie muss ja getan werden – es war einfach nicht mein Ding, nicht meine Berufung. Bücher waren und sind ein wichtiger Teil meines Lebens und die Bibliothek ist mein Reich, meine Welt.
Während dieser Jahre als Putzfrau besuchte ich nicht ein einziges Mal eine Bibliothek, weil ich das Gefühl kaum ertragen hätte, nicht dazu zu gehören. Ich hatte Angst, den vertrauten Geruch nach altem Papier, nach neuen Büchern einzuatmen, Angst, dass meine Sehnsucht nach dieser verlorenen Welt noch stärker würde.
Aber dann hatte ich Glück – ich bekam eine befristete Aushilfsstelle in einer kleinen Stadtbücherei. Nebenbei übernahm ich Übersetzungen für die Stadtverwaltung (zahlreiche Briefe ehemaliger russischer Kriegsgefangener) – eine interessante und anspruchsvolle Aufgabe. Ich erhielt ein sehr gutes Arbeitszeugnis und als Ende 1999 in einer anderen Stadtbücherei gleich zwei Assistentenstellen ausgeschrieben wurden, ergab es sich, dass ich eine Vollzeitstelle erhielt. Den denkwürdigen Anruf Anfang Februar 2000 mit eben dieser Nachricht habe ich heute noch klar in Erinnerung – es war das schönste Telefongespräch meines Lebens.
Es kam noch besser – ich durfte (und darf es immer noch) neben dem Verbuchungs-, Beratungs- und Infodienst die Aufgaben in der Katalogisierung übernehmen. Das war auch in Russland mein Metier, nur ging ich damals, im Gegensatz zu den heutigen elektronischen Datensätzen, noch mit Katalog- und Karteikarten um.
2010 geschah etwas ganz Besonderes, etwas, womit ich nicht mehr gerechnet hätte! An einem dienstfreien Samstag – genaugenommen war es der 4. Dezember – machte ich mich gleich nach dem Frühstück auf die Suche nach günstigen Downloads für meinen neuen eBook-Reader. Schon nach kurzer Zeit stieß ich im Internet auf eine ‚Goldgrube‘ mit dem Namen BookRix. Erfreut stellte ich fest, dass ich dort eBooks nicht nur kostenfrei lesen konnte, sondern sogar die Möglichkeit hatte, selbst welche zu erstellen. Da war es wieder, das wunderbare Gefühl, einen Schatz entdeckt zu haben – fast wie damals, als ich, fünfjährig, zum ersten Mal ein Buch geöffnet hatte. Ohne lange zu überlegen, ohne auch nur zu zögern, meldete ich mich an, erstellte ein Profil unter dem Usernamen anarosa und begann zu schreiben.
Es lief wunderbar und nach etwa einer Stunde lud ich mein erstes eigenes eBook hoch. Es war nur ein kleines Gedicht mit dem Titel „Unsicher?“, aber ich war unheimlich stolz auf mich selbst.
Meine Lebensgeschichte neigt sich ihrem vorläufigen Ende zu. Wer hätte gedacht, dass ich sie jemals zu Papier bringen und sogar ins Internet stellen würde? Aber es ist Tatsache, es ist Wirklichkeit – ich setze zufrieden einen Punkt unter diese Erzählung und vermutlich reift in meinen Gedanken – mir noch unbewusst – auch schon die nächste.
Juli 2011
Meine Homepage: https://www.rosa-andersrum.de/
Mein Blog: https://rosasblog54.wordpress.com/
Text: Rosa Ananitschev
Images: Rosa Ananitschev. Coverbild: Detlef Klewer
Editing: Barbara Siwik, Herausgeber: Karin Pfolz, Renate Zawrel
Publication Date: 10-10-2016
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