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Wie alles begann

 Russland … Dieses Stichwort ist in fast allen meinen Texten vertreten. Nun wundert es auch diejenigen nicht, die wissen, dass ich dort geboren bin. In diesem Land habe ich die längste Zeit meines Lebens verbracht, bis ich 1992 im Alter von 38 Jahren als Aussiedlerin nach Deutschland kam.

In meiner Heimat „redete“ man den Menschen ein, dass es außerhalb des Vaterlandes kein glückliches Leben gibt, dass jeder, der es verlässt, von böser Nostalgie, von schmerzhaftem Heimweh befallen wird. Die meisten glaubten daran, darunter auch ich. Allerdings habe ich in den mehr als 20 Jahren, die ich schon in der Ferne lebe, kein einziges Mal Sehnsucht nach meiner alten Heimat verspürt, nicht einmal in den anfänglichen schweren Zeiten. Ja, ich träume ständig von früher, aber es sind Träume, voller Ängste und hässlicher Szenen aus dem Alltag, eigentlich eher Albträume. Wie oft befinde ich mich wieder in Omsk und stelle mit Entsetzen fest, dass ich nicht mehr wegkommen kann, dass ich meine Arbeit in der Stadtbücherei verloren habe (mit der Gewissheit – diese Stelle kriege ich nie wieder), dass ich keinen deutschen Ausweis mehr besitze. Wenn ich dann aufwache, ist meine Erleichterung – alles nur ein böser Traum! – riesengroß.

Ich wollte nie wieder nach Russland, nie wieder!

Am 10. August 2003 befand ich mich mit zwei Begleiterinnen im Flugzeug und auf dem Weg nach Wien, wo wir in eine Maschine der Lufthansa umstiegen, und nachmittags landeten wir auch schon im Airport Scheremetjewo … Ich weiß, das muss ich jetzt erklären.

Als ich 1997 mich von meinem Mann getrennt hatte (er war ein waschechter Russe und mehrmals in seiner Heimat zu Besuch, jedoch ohne mich) und mit Dagmar zusammenzog, war sie sehr fasziniert von dem, was ich über das Land erzählte. Sie wollte unbedingt meine Heimat, vor allem Sibirien, kennenlernen. Eine Freundin von uns, die schon viel in der Welt herumgekommen ist, war von der Idee auch sehr angetan und erklärte, sie würde die Reise gern mitmachen. Ich schwöre – ich hatte mich gewehrt! Ich hatte versucht, die beiden abzuschrecken, indem ich über alles Mögliche berichtete, was die zivilisierten Menschen so gar nicht gewohnt sind. Es half alles nichts. Obwohl man mir eine gewisse Sturheit nachträgt, schafft man es doch gelegentlich, mich zu überreden, und so gab ich eines Tages nach. Im Stillen dachte ich mir: „Okay, aber ihr werdet sehen, was ihr davon habt.“

Es war freilich auch eine Kostenfrage, die es zu bedenken gab. Solch eine Reise für zwei Personen ist teuer. Dieses Problem löste sich völlig unerwartet, als ich überraschenderweise bei einem Gewinnspiel 15.000 € gewann. Tja, so war der Sprung ins kalte Wasser unvermeidbar.

Die Reise wurde von uns sorgfältig geplant, genauer gesagt, beschäftigte sich damit in unserem Auftrag ein Berliner Reisebüro. Wir hatten vor, bis Moskau zu fliegen, ab da sollte es mit der Transsib in meine Heimatstadt Omsk gehen. Die Rückreise würde nach dem gleichen Muster erfolgen – mit dem Zug bis Moskau, dann mit dem Flieger mit Zwischenstopp nach Deutschland.

Die zwei Mädels benötigten natürlich ein Visum, ich hingegen konnte mir die Kosten dafür sparen, da ich als Aussiedlerin zwei Staatsangehörigkeiten besitze – die deutsche und die russische (dazu gehört natürlich auch der russische Reisepass). Allerdings sorgte dieses Detail für einen großen Schreckmoment im Wiener Flughafen. Meine Mitreisenden passierten ohne Probleme die Zollkontrolle. Als ich jedoch am Schalter meinen russischen Pass vorlegte (wie ich es auch im Düsseldorfer Flughafen tat), fragte man mich nach dem Visum. 

„Wie?“, gab ich mich ganz erstaunt: „Ich brauche doch keins!“ 

„Natürlich brauchen sie es. Sie befinden sich in Österreich, und russische Bürger benötigen für Österreich ein Visum.“

 Schockiert stand ich nun da. Dann dämmerte es mir langsam. Ich begriff, was ich falsch mache, packte rasch meinen russischen Pass weg und holte den deutschen Personalausweis hervor. Damit war die Sache erledigt, denn als Deutsche hatte ich selbstverständlich keine Probleme, nach Österreich einzureisen (auch wenn es natürlich nur der Flughafen war).

 

 Ankunft im Scheremetjewo-Airport

 

Moskau empfing uns zwei Stunden später. Es war eine sanfte Landung – in zweierlei Hinsichten. Erstens, weil die Stadt sich zu einer riesigen Weltmetropole entwickelt hat, vergleichbar mit Berlin, sogar eher mit Paris – das „federte“ den Sprung in eine andere Welt etwas ab. Zweitens: im Airport Scheremetjewo wartete schon ein junger Mann, der uns ins Hotel „Radisson“ chauffierte. In einem schwarzen Wolga fuhren wir durch die Straßen, und er erzählte Storys über dies und jenes. Zum ersten Mal musste ich in die Rolle der Dolmetscherin schlüpfen und kam ganz schön ins Schwitzen. Meine Begleiterinnen waren voll auf die vorbeigleitenden Sehenswürdigkeiten konzentriert. Der junge Mann erzählte auch ein wenig über sich, dass er Student sei und mit Fahrdiensten sich etwas dazuverdiene (eigentlich war es mehr, als sein Stipendium). Am Hotel angekommen, bekam er von uns ein großzügiges Trinkgeld und versprach, am nächsten Tag pünktlich wieder da zu sein, um uns zum Bahnhof zu fahren.

 

Unser Hotel in Moskau mit Super-Service

Die Zugfahrt

Es gibt neun Bahnhöfe in Moskau. Wir mussten zum Kazanskij, aus dem die Züge unter anderem auch in Richtung Sibirien fuhren. Da wir nicht zwei Tage und zwei Nächte lang mit einem fremden und womöglich unsympathischen Menschen in engstem Raum verbringen wollten, hatten wir für uns das gesamte Abteil eines Schlafwaggons gebucht. Einer von vier Plätzen war also nicht besetzt und so verfügten wir auch noch über genug Ablagefläche.

Sobald wir uns einigermaßen eingerichtet hatten, kam auch schon eine der Schaffnerinnen. Sie stellte sich vor und man merkte, wie neugierig sie auf solch ungewöhnliche Fahrgäste war. Nein, so oft hatte sie in ihrem Waggon keine Ausländer.

Obwohl zwei Tage lang, war die Zugfahrt sehr angenehm, und die Zeit gefüllt mit interessanten Eindrücken. Zwei nette Schaffnerinnen standen vom ersten Moment an stets zu unseren Diensten und erfüllten alle unsere Wünsche – nach Möglichkeiten, versteht sich. Wir waren ihnen ebenso dankbar, auch wenn die Dankbarkeit im Nachhinein sich als etwas teuer erwies. Eine der jungen Frauen hatte ein krankes Kind zu Hause, um das sie sich große Sorgen machte. Des Öfteren bat sie Dagmar und mich, unser Handy benutzen zu dürfen, um daheim anzurufen, was wir natürlich nicht ablehnen konnten. Dass unsere Hilfsbereitschaft uns um die 200 € kostete, erfuhren wir erst später, als wir die Handyrechnung bekamen. Aber auch wenn wir es von vornherein wüssten, hätten wir zweifelsohne der besorgten Mutter erlaubt zu telefonieren, soviel es sein musste.

Es gab ein Waggon-Restaurant im Zug und das Essen war günstig. An den Stationen konnte man zusätzlich immer wieder etwas Leckeres kaufen: Obst, Süßigkeiten oder Piroschki (Teigtaschen, in der Pfanne gebraten – mit verschiedener Füllung). Allerdings waren die zwei ‚Nichtrussinnen‘ etwas vorsichtig, was die fremde Küche anging.

Wir hatten immer kochendes Wasser zur Verfügung – aus einem Riesenbehälter (Dagmar und Sylvia nannten ihn Samowar, obwohl es keiner in dem Sinne war) – für die Zubereitung von Tee oder Kaffee.

Fremde Landschaften und Menschen, die doch etwas anders waren, zogen an uns vorbei, und es wurde nie langweilig, sie zu beobachten. Irgendwann passierten wir Ural und den Grenzstein zwischen Europa und Asien. Leider haben wir es nicht geschafft, ihn zu fotografieren, aber er ist auf Sylvias Video zu sehen.

Es war alles spannend, auch für mich, obwohl ich nicht zum ersten Mal solch eine lange Bahnreise machte. Aber damals war sie noch deutlich weniger komfortabel. Nur richtig schlafen konnte ich nicht – das ständige Schaukeln, die Zuggeräusche störten ungemein. Aber zwei Nächte konnte man schon überstehen.

Am Bahnhof Omsk mussten wir uns von Oxana und Vera verabschieden. Sie waren aufrichtig traurig und bedankten sich für die schöne Zeit mit uns drei deutschen Frauen. Was wir ebenso taten. Sie baten mich, unsere Dankbarkeit in einem Brief an ihren Arbeitgeber zu äußern. So ein Schreiben würde ihnen sehr zugutekommen, erklärten sie, und vielleicht bekämen sie sogar eine Prämie.

 

 

 

 

 

 

 Oxana – eine unserer zwei netten Zugbegleiterinnen

 

 

 

 

 

 

 Vor dem Einschlafen: Eine mit Musik …

 

… die andere – klar doch! – mit einem Buch

 

Russische Landschaften im Vorbeifahren 

Aus dem Zug … Sonnenuntergang

Omsk


Bahnhof in Omsk

 

 

Der Ausstieg aus dem Zug glich für mich persönlich einem Eintritt in meine Vergangenheit. Plötzlich war ich wieder mittendrin, sah den alten Bahnhof, hörte aufs Neue seine Geräusche – die Ansagen aus den Lautsprechern, das Hupen der Pkws und die Warnsirenen ihrer Alarmanlagen. Sie waren mir so vertraut und gleichzeitig auch befremdlich. Dieses intensive erste Gefühl glättete sich im Laufe des Aufenthaltes in Omsk; ganz konnte ich meine innerliche Anspannung jedoch nicht loswerden. 

Wir wurden schon von Jewgenia (Eugenia), der Nichte meines Mannes, erwartet. Sie fuhr uns direkt zu ihrer Mutter Olga (Schwägerin meines Mannes). Olga und ihre Freundin Galina hatten schon den Tisch gedeckt, auf dem sich selbstverständlich auch eine Flasche Wodka befand. Und so – mit Wodka – begann unser Aufenthalt in Omsk und mit Wodka endete er eine Woche später.

Olga hatte uns für die gesamte Zeit ihre Einzimmerwohnung überlassen, sie selbst wollte so lange bei der Tochter wohnen. Das war sehr großzügig von ihr, damit brachte sie auch viel Vertrauen uns entgegen, denn Sylvia und Dagmar waren ihr völlig fremd.

Es war eine kleine, aber gemütlich eingerichtete Wohnung. Allerdings verlor die Gemütlichkeit ein wenig an ihrem Wert, als direkt am zweiten Tag das warme Wasser abgestellt wurde. Das war üblich in Omsk im Sommer, und die Erklärung dafür: Die Heizung sowie die Wasser-Versorgung ist in Omsk zentralisiert und wird von einem Werk aus gesteuert. Im Sommer, um die Leitungen zu warten, wird für ca. zwei Wochen schrittweise in jedem Teil der Stadt das warme Wasser abgestellt, für ein-zwei Tage sogar das kalte. Somit hatten wir für den Rest der Woche keine Möglichkeit mehr, richtig zu duschen. Ich kannte das von früher und nahm’s gelassen, die zwei anderen fanden es jedoch gar nicht gut. Aber wirklich – musste das denn gerade jetzt sein?

 

 

 

 In Olgas Wohnung

 

 Wir schreiben …

 

 

 … Urlaubskarten

 

Wenn wir nicht unterwegs sind, spielen wir Rommy-Cub

 

 

 Auch für ein Buch bleibt noch etwas Zeit …

 

 Daggi hinter Gittern

 

 

Zu dem vergitterten Balkon gibt es eine Geschichte, die Olga uns lachend erzählte. Eines Nachts, als das Gitter noch nicht vorhanden und auf dem Balkon Wäsche zum Trocknen aufgehängt war, wurde sie von einem Geräusch aus dem Schlaf gerissen. Es war Sommer und tagsüber sehr heiß, auch für die Nacht blieb noch genug Hitze übrig. Daher sparte sich Olga ein Nachthemd und schlief, lediglich mit einer leichten Decke bedeckt.

Sie sah, wie eine dunkle Gestalt sich an den Wäscheleinen zu schaffen machte. Leise, ohne groß zu überlegen, jedoch mit hämmerndem Herzen, holte sie aus der Küche das Nudelholz, stürmte nackt wie sie war auf den Balkon und drosch damit laut schreiend auf den Einbrecher ein, der gerade am Abräumen der Wäsche war. Der Unbekannte schrie selbst vor Schreck noch lauter, ließ alles stehen und fallen und rutschte blitzschnell den Balkon hinunter. Nach diesem Vorfall hat Olga den Balkon vergittern lassen.

Wir waren viel eingeladen und meistens mit dem Bus unterwegs. In Omsk werden zusätzlich zu dem Linienverkehr kleine Taxibusse oder Großraumtaxis eingesetzt. Gewöhnlich nahmen wir diese, etwas bequemere Fortbewegungsmöglichkeit in Anspruch. Das allererste Fahrzeug, in den wir einstiegen, hatte innen drin lustige Aufkleber mit Bienenmotiven. Wir fanden sie sehr süß und so wurde dieses Transportmittel von uns auf den Namen Binkibus getauft.

Bisweilen fuhren wir auch mit normalen Taxis. Die Fahrten selbst waren allerdings alles andere als normal. Einmal saßen wir zu sechst im PKW: Olga, Galina und wir drei plus Fahrer. Ein andermal hatte das Taxi kein Wasser in der Scheibenwischanlage, es war jedoch nach dem Regen feucht und matschig, die Scheibenwischer kratzten unentwegt übers Glas, verschmierten den Dreck nur noch mehr, sodass man kaum die Straße sah … Wie durch ein Wunder gelangten wir doch noch an unser Ziel. Womöglich spielte aber die nackte Frau, deren Bild an der Frontscheibe klebte, für uns den Schutzengel. Der Rückweg spätabends war auch nicht ohne. Wieder in einem Taxi sitzend, schreckten wir hoch, als der Fahrer plötzlich das Warnblinklicht einschaltete. Er beruhigte uns: „Nur keine Panik, ich fahre mal schnell durch die Einbahnstraße“ … Verkehrt herum und verkehrswidrig, versteht sich.

An diesem Abend waren wir zu Besuch bei Lina, Cousine meines Mannes, und danach ziemlich beschwipst, da uns selbst gebrannter Wodka angeboten wurde. Man teilte uns vorsorglich mit, dass er mindestens 60 % hätte. Wir probierten – uns konnte nichts mehr aus der Fassung bringen – und staunten: Er fühlte sich gar nicht so stark an, ging zwar feurig die Kehle runter, war aber sogar angenehmer als Wodka aus dem Laden, der natürlich auf dem Tisch auch nicht gefehlt hatte.

Lina, selbst Bibliothekarin und Abteilungsleiterin in der Unibibliothek, lud zum Treffen noch zwei meiner früheren Arbeitskolleginnen ein – Nadja und Vera –, sowie den Freund meines Ex-Mannes – Nikolaj (von Beruf auch Bibliothekar).

 

Mit Nadja und Vera

Nikolaj

Es gab viele leckere Sachen

Wein aus der Packung, aber aus den Flaschen gab es ihn auch

(Lina und Nadja)

 

 Kaffee oder Wein? Oder doch noch Selbstgebrannten?

 

Es hat sich vieles verändert und doch war die Stadt immer noch die alte, die aus meiner Vergangenheit. Es fühlte sich an, als ob meine Träume in die Wirklichkeit eingedrungen wären. Die Menschen, die bekannten Straßen und Gebäude riefen Erinnerungen wach, sogar Empfindungen von damals kamen wieder hoch. Mit dem Wissen – ich bin nur Gast hier, nur für kurze Zeit – ergaben sie eine seltsame Mischung aus Wehmut, Hoffnung, Niedergeschlagenheit, Unruhe. Trotz alledem war da auch die freudige Erwartung, die Neugier. Wenn ich mir jetzt die Reisebilder ansehe, kann ich es wiederum kaum glauben, dass ich durch diese Straßen wirklich noch einmal gelaufen bin …

 

 Fontaine-Anlage, abends mit Lichtspiel, am Musiktheater. Darin steckt viel Arbeit von Vladislav (Olgas Schwiegersohn). Er ist selbstständiger Elektroinstallateur und betreibt eine kleine Firma

Die Omsker sind sehr stolz auf ihr Dramtheater. Völlig zurecht

 Auf dem Weg zum Irtysch

 

 Irtysch (Die kaputten Stufen hinunterzugehen haben wir uns nicht getraut)

 

 

 

Streunende Hunde in der Flussnähe, hungrig und voll Flöhe

 

 Der Strand für normale Sterbliche

 

 Und das ist der private Bereich des Strandes …

 

 zu dem die normalen Sterblichen keinen Zutritt haben (wir gehörten selbstverständlich auch dazu)

 

 Die Brücke über Irtysch, als Teil der zukünftigen U-Bahn, oder wie die Russen sagen würden: die Metro

 

 

Die Geschichte zu dieser Skulptur ist rührend und traurig. Es gab im 19. Jahrhundert in Omsk einen Generalgouverneur Gasfort, deutscher Herkunft. Er war schon 63, als er zum zweiten Mal die noch sehr junge Ljuba (Ljubov) aus der Adelsfamilie heiratete. Im Alter von 17 Jahren erkrankte Ljuba plötzlich an Tuberkulose und starb im Jahre 1852 in Rotterdam, sie war gerade mal 23 Jahre alt. Da der Gouverneur keine Porträts von ihr besaß, beschloss er, ein Denkmal seiner Geliebten errichten zu lassen. Dieses Denkmal steht an der Stelle, wo Ljubotschka gerne spazieren ging. Seitdem heißt diese berühmte Straße Ljubinsky Prospekt und ist eine der ältesten und schönsten Straßen der Stadt. Es gibt eine Legende, wonach das Mädchen, das sich neben Ljuba (Ljubov bedeutet Liebe) auf die Bank setzt, bald heiraten wird. Ob das stimmt, weiß man nicht. Tatsache aber – bei mir hat es funktioniert! Zwei Jahre später habe ich wirklich geheiratet, und zwar die Frau, die auf dem Foto hinter Ljuba steht.

 

 

Skulptur „Klempner Stepanytsch“, 1998 errichtet, Bildhauer Sergej Noryshev 

Vor Kurzem habe ich erfahren, dass „Stepanytsch“ kurioserweise im Februar 2011 in einen Verkehrsunfall verwickelt war und in die Schlagzeilen kam. Beim Versuch einzuparken, passierte einem Autofahrer ein Missgeschick – die Vorderräder seines Toyota blieben „in dem Kulturgut der Stadt“ hängen. So geriet „Klempner Stepanytsch“ unter die Räder. Die Rettungsarbeiten des Abschleppdienstes dauerten etwa 20 Minuten. „Stepanytsch“ kam mit ein paar Kratzer davon.

 Ein Bus wird gerade abgeschleppt

 

 Das alte Stadttor

 

Ein dickes Eis …

 

 

 

schmeckt immer, sowohl in Iserlohn als auch in Omsk

 

 das Bier war auch nicht schlecht,

meins landete allerdings ungeschickterweise nicht in meinem Magen, sondern auf meinem Schoß

 

 Im Stadtpark

 

 

 Im Park. Diese gut gelaunten Jungs waren gerade dabei, die Blumen zu gießen – in Omsk sollte demnächst eine Blumen-Ausstellung stattfinden. Als sie uns sahen (wir waren überall sofort als Ausländerinnen erkannt worden), baten sie, ein Foto „für Deutschland“ von ihnen zu machen. Auf meinen Einwand, dass sie es ja nie zu sehen bekämen, antworteten sie lachend: „Das macht nichts, wir wollen trotzdem für euch posieren.“

 

 

 Auf dem Friedhof

 Die Friedhofskapelle

 

 

Auf dem Friedhof konnte man sofort sehen, ob einer als reicher Mensch gestorben war, oder als armer, denn dementsprechend unterschieden sich die Grabstätten. Einige waren pompös und mit Marmor-Platten oder -Denkmälern ausgestattet, die anderen, die in der Überzahl, schlicht – mit Erdhügel, Holzkreuz und einfachem Zaun aus Gusseisen.

Ja, in Russland werden die Gräber umzäunt. Woher dieser Brauch stammt, müsste ich noch herausfinden. Im Kapitel „Im Dorf“ kann man auf einem Foto gut erkennen, wie ein solcher Zaun aussieht. Um ins Innere für die Grabpflege zu gelangen, wird in solcher Umrandung ein kleines Türchen eingebaut.

 

 

 Unweit vom Friedhof filmt Sylvia mit Staunen, wie die Lkws den Matsch und die Schlaglöcher bewältigen (ein Foto darüber gibt es leider nicht).

 

 

 

Am Rand des Gehweges verkaufen Datschenbesitzer Blumen, Obst und Gemüse. Obwohl der Begriff Datscha gleich die Bilder prunkvoller Villen vor dem inneren Auge entstehen lässt, sind es in diesen Fällen einfache Schrebergärten, die der zusätzlichen Versorgung dienen und viel Arbeit fordern. Ihre Besitzer sind alles Menschen, die nicht viel haben, die versuchen, mit ihrer Ernte ein wenig Geld zu verdienen.

Bevor wir uns auf den Weg in mein Heimatdorf machten, wollte ich für das Grab meiner Mutter einen Blumenstrauß kaufen. Ich stand unschlüssig vor den Blumenverkäuferinnen, sie schauten mich alle erwartungsvoll an und streckten mir ihre Sträuße entgegen: „Nehmen Sie meine! Nehmen Sie meine! Meine sind frisch!“. Irgendwie taten sie mir leid, und ich kaufte Blumen gleich bei mehreren Frauen.

 

 

 

Straßenverkehr in Russland? Ich kann mir nicht mehr erklären, wie ich es vor 22 Jahren geschafft habe, die Führerschein-Prüfung zu bestehen, und das gleich im ersten Anlauf (mein Mann und mein ältester Sohn waren durchgefallen). Obwohl … so schlimm wie 2003 war es damals, im Jahr 1992, noch nicht.

Keine von uns drei Frauen hätte sich getraut, in Omsk ein Auto zu fahren. Wenn man das Bild oben sich genauer ansieht, merkt man, dass die Fahrzeuge jede Sekunde bereit sind, loszubrausen, und die Fahrer haben es so eilig, dass sie fast bis zur Mitte der Kreuzung vordringen, obwohl die Ampel rot zeigt. Sie stehen quasi in den Startlöchern und warten auf den „Startschuss“.

 

 

 

 

 

 Alt und Neu nebeneinander

 

 Im Foyer eines Restaurants – mit hervorragender Küche und sogar mit Livemusik. Das Essen, bestehend aus Drei-Gänge-Menü, war ausgezeichnet und doch sehr preiswert. Für uns fünf hatten wir nur ca. 100 € ausgegeben.

 

Mmm … lecker!

Diese Skulptur „Derschawa“ (der Name bedeutet so viel wie Macht oder Power) wurde 1997 vom Bildhauer Wassili Trokhimchuk erschaffen (auch Schöpfer des Reliefs am Gebäude der Landesbibliothek – „Puschkin Library“). Es ist eine sieben Meter hohe Gedenktafel, in Form einer Kugel. Die Reliefs am Gürtel erzählen über die russischen Pioniere, die Sibirien erkundet haben.

 

Aufgrund fehlender Mittel wurde das Metall auf dem Gehäuse mit Fiberglas und die Reliefs mit Gemälden ersetzt. Die Skulptur steht auf dem Platz, der den Namen Buchholz trägt (Gründer der ersten Omsk-Festung, Mitarbeiter des Peter I.). Deswegen bekam sie den Spitznamen „Buchholz-Ei“. 

Wegen des vorzeitigen Todes des Bildhauers konnte die Arbeit am Buchholz-Ei nicht beendet werden. Ob die Skulptur den Platz vor dem Binnenhafen schmückt, ist zweifelhaft. Es gibt Pläne, das „Ei“ verschwinden zu lassen und es mit einem Denkmal für Peter I. zu ersetzen.

Binnenhafen – ein modernes Gebäude, in dem es ein paar kleine, aber teure Geschäfte gibt – mit Elektronik und dergleichen. Im Inneren erlebten meine Mädels einen Kultur-Schock, als sie die dortige Toilette benutzen wollten. Ich wartete draußen, als sie nach kurzer Zeit mit entsetzten Gesichtern herauskamen … unverrichteter Dinge. Ich solle mir mal die Toiletten ansehen. Das tat ich … So schlimm war es gar nicht, ich kannte viel schlimmere Zustände. Es gab drei Kabinen, die voneinander mit einer niedrigen Wand getrennt waren, sodass man im Stehen die Nachbars-Köpfe nebenan sah und unten konnte man auch eingehend fremde Füße, besser gesagt Schuhe, betrachten. Die Kloschüsseln waren ebenerdig eingelassen – zum Niederhocken. Aus Metall und mit rostigen Flecken, sahen sie, zugegeben – alles andere als schön aus, aber sie waren sauber. Ich sagte den Zweien lachend, sie sollen sich nicht so anstellen, aber ich konnte sie verstehen und schämte mich, offen gesagt, für meine Heimatstadt. Dann blieb Daggi draußen Schmiere stehen, während Sylvia in meiner Begleitung die Toiletten filmte. Wir haben immerhin keine Fotos gemacht!

 

 

 

 

 

Dostojewskij verbrachte zwar 4 Jahre in Omsk (von Dezember 1849 bis Februar 1854), es waren aber Gefängnis-Jahre. Er gehörte in Sankt Petersburg einer Gruppe junger Intellektueller an, die sich "Petraschewzen-Zirkel“ nannte – nach dem Gründer Michail Butaschewitsch-Petraschewski. Sie diskutierten über Literatur und kritisierten die Politik und den Zaren. Zu jener Zeit waren solche Gruppierungen in Russland verboten.

Im April 1849 wurden die Mitglieder der Gruppe, unter ihnen Dostojewski, verhaftet und als politische Verschwörer verurteilt. Zunächst sprach man wegen „Verrats an der Nation“ die Todesurteile aus – Dostojewski und seine Kameraden sollten Anfang 1850 durch ein Erschießungskommando hingerichtet werden. Erst im letzten Moment begnadigte Zar Nikolai I. die Angeklagten und änderte die Strafe in vier Jahre Verbannung und Zwangsarbeit in Sibirien.

 

Pushkin-Library

(Foto: Oleg Broskin. Quelle: www.yandex.ru)

 

 

Skulpturen am Relief der Puschkin-Bibliothek – Bildhauer Wassili Trokhimchuk

In der Bibliothek


 Mit der Leiterin und stellvertretenden Leiterin

 

 

Der Besuch in der Bibliothek und das Treffen mit meinen ehemaligen Kolleginnen war selbstverständlich ein Muss. Sie freuten sich, mich zu sehen; man merkte ihnen auch an, wie neugierig sie auf die zwei Frauen waren, die mich begleiteten. Sie stellten viele Fragen zu unserem Leben, zu Deutschland und zu meiner Arbeit in der Stadtbücherei. Ich kam kaum mit dem Übersetzen nach.
 

 

Die elektronische Datenverarbeitung war 2003 in der Unibibliothek erst im Anmarsch, der Karteikarten-Katalog noch nicht mit papierlosem ersetzt, und so konnte ich die vielen, einst von mir gefertigten, Kärtchen in den Kästen entdecken. Ich war für die Katalogisierung zuständig und die Karteikarten schrieb ich damals mit Schreibmaschine. Trotzdem war meine „Handschrift“ immer noch unverkennbar.

 

 

 Lina – die Cousine meines Mannes und Leiterin der Katalogisierung.

 

Die Bibliothek hatte gerade für Besucher geschlossen, da noch Ferien waren, und es stapelten sich überall Lehrbücher, die noch bearbeitet und eingeräumt werden mussten.

 

 

 

Auf dem Foto: Mitarbeiter der bibliografischen Abteilung, Erwerbung und Katalogisierung (innere Abteilungen) im Jahre 1989. Insgesamt beschäftigte die Bibliothek um die 45 Mitarbeiter.

Oh ja, unglaublich, aber wahr – ich hatte eine Dauerwelle (rechts in der vorderen Reihe) :-)))

Datscha-Motive

Das Wetter war während unseres Besuches überwiegend schön und sonnig, perfekt für einen Ausflug ins Grüne, und so lud uns Galja auf ihre Datscha ein. Im Westen assoziiert man das Wort Datscha mit schickem Landhaus, umgeben mit einem schönen Garten. Jedoch sind die meisten Datschen in Russland nicht zum Entspannen da, sondern dienen für die Zusatzversorgung mit Kartoffeln, Gemüse und Obst. Es ist harte Arbeit, verbunden mit langen Fahrten, da die Datschen außerhalb der Stadt liegen, und wenn man kein Auto hat, muss man viel Zeit einplanen.

 

 

 

 

 

Wir hatten an diesem Tag nicht arbeiten müssen, sondern waren wirklich nur zum Vergnügen da. Es gab reichlich Obst, Gemüse, selbst gemachten Salat und Frikadellen. So eine saftige, köstliche Wassermelone hatte noch keine von uns Dreien in Deutschland gegessen.

Eine Flasche Wodka durfte selbstverständlich im Freien – auch zur Wassermelone – nicht fehlen.

 

 In Russland serviert man als Nachtisch oft Gebäck oder Kuchen – mit Tee oder Kaffee. Diese Torte sah toll aus, war aber für unseren Geschmack viel zu süß.

Der schöne Ausblick von oben über die Dächer anderer Gartenhäuser

Im Kloster Achair

An einem trüben, regnerischen Tag (es war auch der einzige mit Schlechtwetter in dieser Woche) hatten wir einen Ausflug in das berühmte Nonnenkloster Achair unternommen. Das Kloster liegt auch am Irtysch, aber 45 km von Omsk entfernt.

Wir warten auf unser Schiff

 

 Dieses große ist es allerdings nicht

 

Nun sind wir aber unterwegs

 

 Galina und Olga hellwach und auf das Kloster gespannt

 

 

 

 Eine Nonne nahm uns in Empfang. Sie verteilte Info-Blättchen und erzählte vom Kloster und seinen Besonderheiten, darunter auch von der heiligen Quelle. Das Wasser dieser Quelle soll Wunder wirken.

Egal, welche Krankheit du hast – es hilft, erklärte uns die Schwester. Aber wie sehr sie sich auch bemühte, uns zu überreden, da hineinzugehen - wir waren unnachgiebig, nicht mal unsere Füße wollten wir nass machen.

Bei näherem Betrachten erkennt man zwei Köpfe, die im Wasserstrom über die Oberfläche ragen – diese Stelle soll die Wunderwirkendste sein. Die ganze Zeit, in der wir da standen und das Treiben beobachteten, rührten die zwei sich nicht vom Fleck (und wir standen lange!), obwohl die anderen Badenden ohne Zweifel auch scharf darauf waren, etwas vom Wunder abzubekommen. Wir fanden diese dauerhafte Besetzung überhaupt nicht nett.

Allerdings gab es auf dem Klostergelände noch einen Brunnen, in dem das Wasser (selbstverständlich!) ebenso heilend war. Auf dem Rand stand ein voller Eimer mit einem angeketteten Emaille-Becher. Wer wollte, konnte den Becher zum Trinken benutzen. Auch das trauten wir uns nicht zu tun, denn der Gedanke daran, wie viele Münder den Becher schon berührt haben könnten, hielt uns davon ab.

 An diesem Tag fand gerade eine Taufe statt und wir schauten gebannt zu. Fotografieren durften wir sie leider nicht, aber Sylvia hatte trotzdem heimlich gefilmt.

 

Und es gab an diesem Tag (an anderen bestimmt auch) eine richtige Plage im Kloster – Horden von Mücken, die uns immer wieder attackierten. Die meisten Stiche bekam Dagmar ab – wir zählten ganze 53 zusammen, und das nur an einem Bein. Einige der Wunden entzündeten sich später, und ich musste für die Leidende eine Salbe aus der Apotheke besorgen. Sie half glücklicherweise gut.

 

 

Erschöpft … Die Rückfahrt

Im Dorf

Das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin – eine besondere Etappe der Russlandreise. Ich gebe zu – ich hatte Angst, dahinzufahren, obwohl dieses Gefühl mir selbst völlig irrational vorkam. Erst Jahre später sollte ich den Grund dieser seltsamen Beklemmung erkennen und gleichzeitig verstehen, warum ich schon als Kind depressiv war. Im Jahr 2003 hatte ich nicht die geringste Ahnung.

 

In diesem Haus, das Vater zuletzt gebaut hatte, wohnte er mit seiner zweiten Frau bis zur Ausreise (1993) nach Deutschland. Er verkaufte es für kleines Geld an eine russische Familie. So sah es 1995 aus, noch einigermaßen gepflegt. Nein, das Häuschen links ist nicht das Nachbarhaus, sondern die Sommerküche. Fast alle Schönfelder hatten zusätzlich zu der Küche im Haus noch eine, sozusagen, externe Küche. Deren Sinn und Zweck waren einfach – im Sommer möglichst wenig Dreck ins Hauptgebäude zu tragen und die vielen Fliegen fernzuhalten.

 

 So fand ich das Haus 2003 vor – heruntergekommen, mit Unkraut zugewachsen.

 

Neben mir die Besitzerin des Hauses, die freundlicherweise mit uns gesprochen und erlaubt hatte, Fotos zu machen. Ins Haus selbst hatte sie uns nicht eingeladen und ich verspürte auch nicht den geringsten Wunsch, das Innere zu sehen.

 Mit diesem Auto fuhr uns Olgas Schwiegersohn nach Schönfeld und zurück; die Entfernung beträgt 100 Kilometer. Dabei (so ganz nebenbei) wurde eine Felge durch Schlaglöcher beschädigt.

 

 

Auf der anderen Straße des Dorfes …

… steht  dieses Haus (das zweite, vom Vater 1962 gebaute).

Hier war ich seit meinem achten Lebensjahr zu Hause, bis ich nach dem Tod meiner Mutter mit 17 auszog. Es sieht genauso ungepflegt aus, wie das davor. Wer es jetzt bewohnt, kann ich nicht sagen, nehme jedoch an, dass es auch Russen sind. Das ganz alte Haus, in dem ich geboren bin, existiert nicht mehr, es stand einst weiter rechts auf demselben Grundstück.

 

 

 

In diesem Hof spielte ich als Kind und auf der kleinen Holzbank saß ich oft im Schatten des alten Ahornbaumes und dachte nach – über Gott und die Welt und über mich selbst.

 

 

Weil der Friedhof mit hohem Gras zugewachsen war, konnte ich zunächst das Grab meiner Mutter nicht finden und geriet schon fast in Panik. Dann entdeckte ich es doch noch und es war auch relativ sauber drumherum. Anscheinend kümmerte sich jemand aus dem Dorf um die Ruhestätte. Ich spürte einen Kloß im Hals und mein Herz zog sich zusammen, als ich ein Sträußchen Blumen auf das Grab stellte und daran denken musste, dass meine Mutter hier ganz allein unter der Erde geblieben ist. Sie hatte nicht mehr erfahren können, dass es außer Diktatur, Gewalt, Ungerechtigkeiten und Leid auch noch ein anderes, ein besseres Leben gab. Sie war erst 58 Jahre alt, als der Tod sie holte.

 

 

 

 Auf diesem Bild fehlen meine zwei ältesten Geschwister und die zweijährige Erna. 

Die Kleine vorn bin ich, im Alter von fünf Jahren. 1959

Abschied - Der letzte Abend in Omsk

Zur Abschiedsfeier waren wir bei Raja (Raisa) eingeladen. Männer waren nicht dabei. Nicht, dass keiner sie dabei haben wollte. Es gab sie einfach nicht, nicht für die anwesenden Damen. Warum wir drei aus Deutschland ohne Herren-Begleitung auftraten, brauche ich natürlich nicht zu erklären. Was Olga betrifft, so war sie verwitwet. Eugens Bruder – ihr Mann (da lebten sie allerdings schon getrennt) – starb, als er noch keine 40 war, infolge des Alkohol-Missbrauchs (vorsichtig ausgedrückt). Raja könnte man ebenso als Witwe bezeichnen, obwohl keiner wusste, ob ihr, vor vielen Jahren verschollener Ehemann (auch Alkoholiker) wirklich tot war oder doch noch am Leben … irgendwo.  

Ich gebe zu, viele Männer aus der Verwandtschaft und dem Freundeskreis meines Mannes sind nicht mehr am Leben. Sie fielen entweder einem Mord oder dem Wodka zum Opfer. Am Tod seines Vaters war auch Wodka schuld. Einer seiner Vettern ist erstochen worden, der andere, wie schon erwähnt, wird vermisst; der Mann einer seiner Nichten gehörte der Mafia an und weilte längst nicht mehr unter den Lebenden. Nun ja, diese Aufzählung könnte noch weitergeführt werden. Aber wen wundert das?

Zu den Bildern weiter unten muss ich nicht viel erzählen, denn sie sprechen für sich selbst. Wenn Russen feiern, dann feiern sie. Nur am Tisch sitzen und reden – geht nicht, gibts nicht. Es wird getrunken, gegessen, getrunken, gegessen, dann getanzt, gesungen und in den Pausen immer wieder getrunken und gegessen. Es werden jedoch keine leeren Gläser nach hinten an die Wand geworfen! Dieses völlig falsche Bild von den Russen und ihrem Wodka sollte endlich aus der Welt geschafft werden. Womöglich hatte auch einmal ein reicher Russe, dem das Glas nicht zu schade war, so etwas getan – die normalen Menschen machen es nicht.

Es floss reichlich Wodka am letzten Abend in Omsk – das will ich gar nicht verschweigen. Der Abschied von den so gastfreundlichen Menschen fiel uns schwer, aber er war unvermeidlich. Wir mussten uns wieder auf den Rückweg machen; früh morgens ging unser Zug Richtung Westen, von Omsk nach Moskau. Geschlafen hatten wir in dieser Nacht kaum. Sylvia und Dagmar ging es besonders schlecht – aus Gründen, zu denen ich im nächsten Abschnitt noch kommen werde.

 

 

 

 Rechts: Julia, die Tochter von Raja, links: ihre Freundin

An meiner Gesichtsfarbe erkennt man, ob meine letzten Getränke in Omsk mit oder ohne Alkohol waren. Aber ich hatte keinen Fisch gegessen!

Moskau

Die Zugfahrt zurück nach Moskau war der krasse Gegensatz zu der Fahrt nach Omsk. Wir hatten zwar wieder ein Abteil nur für uns drei und zwei Zugbegleiter – eine junge, distanzierte und desinteressierte Frau (desinteressiert zeigte sie sich nicht nur uns Ausländern gegenüber, sondern auch gegenüber allen anderen Passagieren) und ein ebenso kühler, geschäftiger junger Mann. Zu allem Leid hatten zwei von uns dreien starke Magenbeschwerden, vermutlich lag es an dem Fisch, den wir bei Raja serviert bekamen. Da ich keinen Fisch esse, ist wohl offensichtlich, wer betroffen war.

Sylvia und Dagmar erholten sich nur langsam, verbrachten fast die ganze Zeit auf den Liegen, und so war ich sozusagen mir selbst überlassen. Nun hatte ich ja zum Glück genug Lesestoff dabei.

Wir hatten noch zwei Tage für die Hauptstadt eingeplant … Es waren Erlebnisse ohne Gleichen.

Obwohl wir schon am allerersten Abend – nach unserer Ankunft und noch bevor wir am nächsten Morgen in den Zug nach Omsk stiegen – einen Spaziergang über die berühmte Arbat-Straße machten, wollten wir ihn unbedingt wiederholen. Die alte Künstlerstraße hat eine besondere Atmosphäre, die man gespürt haben muss, um sie zu verstehen. Ich hatte ein unbeschreibliches Gefühl des Friedens, der Einigkeit mit anderen Menschen, die über die Straße schlenderten, hier und da anhielten, die Straßenmaler und Musiker bewunderten. Arbat ist ein Symbol der Freiheit, des entfesselten Geistes; egal welches Regime gerade im großen Land herrscht, Arbat scheint davon nicht betroffen zu sein, sie hat ihre eigene Geschichte.

Ich fühlte ein innerliches Zittern und hatte Gänsehaut, als ich daran dachte, wer alles einst dieses Pflaster betrat, wen alles die alten Steine sahen.

Besonders beeindruckt waren wir von einer Truppe junger Musiker, die verschiedene Instrumente dabei hatten. Sie spielten Klassiker – Mozart und Beethoven, nicht nur wir drei waren fasziniert von ihrer Musik, immer mehr Menschen sammelten sich um das Orchester und hörten schweigend zu.

Ein paar Schritte weiter trafen wir auf ‚Michael Jackson‘, der sich auch mit dem Original erfolgreich messen konnte.

 

Arbat. Foto: Dr. Frank Werner, Quelle: www.math.uni-magdeburg.de

 

 

Matrjoschkas in jeder Fülle, Form und Farbe

 

Dagmar in schlechter Gesellschaft. Zum Glück hatte sie keinen bleibenden Schaden davongetragen und wurde auch nicht ideologisch oder sonst wie umorientiert

 

Die Basilius-Kathedrale, oder Kathedrale des seligen Basilius, war leider in der Zeit unseres Aufenthaltes in Moskau geschlossen – wegen Bauarbeiten – und weiträumig abgesperrt

 

 Das Lenin-Mausoleum

Das Mausoleum hätten wir besichtigen können (nur zu bestimmten Zeiten), müssten aber Schlange stehen, und man durfte keine Kameras oder Sonstiges dabei haben. Da wir sie nicht irgendwo zur Aufbewahrung abgeben wollten und ich meinen Mädels versicherte, es sei nichts Besonderes, eine einbalsamierte, männliche Leiche im Sarg mit durchsichtigem Deckel zu sehen, hatten wir beschlossen, es ganz sein zu lassen und lieber eingehender den Roten Platz zu erkunden.

 

 Am Roten Platz

 

 

 Denkmal und Ewiges Feuer dem Unbekannten Soldaten

 

 

 

 

 Im GUM …

 

… war vieles genauso teuer wie in Deutschland, manches sogar noch teurer

 

 

Es gibt in Moskau ein riesengroßes Geschäft für Kinder „Detskij Mir“ (übersetzt: „Kinderwelt“). Lange haben wir uns im Inneren gar nicht aufhalten wollen, dafür war es wirklich zu gigantisch. Aber den „Mischka“ wollten wir unbedingt aufnehmen. Sylvia holte ihre Kamera raus, kam aber nicht weiter, als sie bloß einzuschalten, schon eilte ein Uniformierter auf uns zu. Er schüttelte den Kopf und seine Handbewegung war eindeutig: „Weg damit! Nicht erlaubt!“. Ja, das durfte man nicht – keine Fotos, keine Videos. Sobald der strenge Mann außer Sicht war, filmte die unerschrockene Sylvia doch noch, wenn auch nur kurz, den Teddybären.

 

Zwei Tage für solch eine große Stadt war natürlich viel zu wenig. Da hätte wohl nicht mal eine Woche gereicht, um alles zu sehen. Aber trotzdem brachte uns unentwegt etwas zum Staunen. Wir kamen von A nach B meistens mit der U-Bahn und bewunderten die kunstvoll angelegten Metro-Stationen, von denen manche so tief unter die Erde gingen, dass es einem Angst und Bange wurde. Die Luft da unten war ziemlich schlecht, leider funktionierte die Belüftung nicht besonders gut. Wir konnten uns problemlos orientieren, da die Beschriftung sehr verständlich und zweisprachig war, und ich ja die russische Sprache gut beherrschte (wie denn auch anders?) und Sylvia – ihre Muttersprache Englisch.

Wir hatten in verschiedenen Lokalen gegessen, das Essen war preiswert, perfekt zubereitet und lecker. Jedes Restaurant hatte ein eigenes, besonderes Flair. Leider waren wir nicht immer dazu gekommen, Fotos zu machen, und im Nachhinein bedauere ich, dass wir von manchen Sehenswürdigkeiten gar kein Bild haben. Nun ja, wir haben immerhin ein Video.

Eine Szene – typisch für die neuen reichen Russen, aber in der Art von uns noch nie beobachtet – möchte ich noch hier schildern, dann komme ich auch schon bald zum Ende unserer Reise und dieser Erzählung.

Es war der letzte Tag in Moskau, wir hatten uns ein nettes italienisches Restaurant ausgesucht, in dem es hell und gemütlich war. Wir hatten schon bestellt und warteten auf unser Essen, als die Eingangstür geöffnet wurde und ein schwarz gekleideter Mann eintrat. Er blieb am Eingang stehen, hielt die Tür halbgeöffnet und sah sich aufmerksam um, dabei nahm er jeden Anwesenden kurz „unter die Lupe“. Dann nickte er nach draußen, worauf hin eine kleine Gruppe hereinkam, anscheinend eine Familie, bestehend aus Vater, Mutter und zwei Kindern. Zum Schluss folgte noch ein muskelbepackter Kerl, ebenso im schwarzen Anzug. Die Familie setzte sich an einen reservierten Tisch, die Leibwächter an einen anderen in der Nähe. Wir verfolgten fasziniert dieses Szenario, wogegen die anderen Gäste kaum Notiz davon nahmen, so etwas war für sie wohl alltäglich.

 

 

 Der Fluss Moskwa fließt durch die Hauptstadt Moskwa

 

Aus unserem Hotel-Zimmer  …

 

 

… Moskau bei Nacht 

 

 

Unser Hotel war ausgezeichnet, eins, worauf seine Angestellten sichtlich stolz waren. Gleich nach unserer Ankunft erzählte man uns, dass sehr viele Promis schon unter diesem Dach gewohnt hatten, vor Kurzem war es sogar Angelina Jolie.

Eine unangenehme Sache muss ich jedoch erwähnen. Als wir etwas wissen wollten und ich dem jungen Mann an der Rezeption Fragen auf Russisch stellte, beachtete er mich überhaupt nicht. Dann fragte Sylvia das Gleiche auf Englisch und sofort bekam sie seine volle Aufmerksamkeit. Ich denke, diesen kleinen, feinen Unterschied brauche ich nicht zu kommentieren. „Von nun an“, sagte ich zu Sylvia, „wirst du die Sprecherin unserer kleinen Truppe sein“. Und so waren wir immer als ausländische Gäste respektvoll und zuvorkommend behandelt. (In Omsk allerdings gab es diese Barriere nicht, da konnte ich mein Russisch frei einsetzen, die englische Sprache hätten ohnehin die Wenigsten verstanden).

Das Frühstück im Hotel war himmlisch. So hatte ich noch nie gespeist. Schon frühmorgens konnte man alles haben, was das Herz/der Magen begehrte – von jeder Sorte Obst über verschiedene Arten der Eier-Zubereitung bis zu allerlei warmer Gerichte. Die Bedienung stand zwar auf taktvoller Entfernung, war aber auf der Hut und behielt unsere Teller im Auge. Sobald einer leer war, wurde er weggeschnappt – das war wiederum nicht unbedingt taktvoll und ziemlich störend. Aber es war alles sehr, sehr lecker!

 

 

 

 

Auf dem Sprung … nach Hause


Nachwort

Nach unserer Rückkehr hatte ich tatsächlich einen Brief an den Arbeitgeber von Oxana und Vera geschrieben (in russischer Sprache, versteht sich), in dem ich mich im Namen aller drei Zugreisenden für die gute Betreuung bedankte. Ob er etwas bewirkt hat, ob er überhaupt angekommen ist – das bleibt für immer ein Geheimnis, denn beantwortet wurde er nie.

 

Nun bekamen auch wir Besuch aus Sibirien. 

 

 Olga besuchte uns 2004.

Foto: Auf dem CSD-Fest in Iserlohn, Daggi links, Olga rechts

 

Nadja (meine frühere Vorgesetzte und gute Freundin aus der Bibliothek des polytechnischen Institutes – meiner ersten Arbeitsstelle in Omsk) besuchte uns 2008. Natürlich hatte ich ihr auch die Bücherei, in der ich in Deutschland arbeite, gezeigt. Sie war begeistert. Auf dem Bild – wir beide in der Kinderbücherei vor dem Info-Tisch.

 

Seit 2003 sind schon über zehn Jahre vergangen. Trotzdem wird die Reise bei uns Dreien in Erinnerung bleiben – auch dank des Videos und den vielen Fotos. Meine Mitreisenden waren besonders von den Menschen und ihrer Gastfreundlichkeit begeistert. Das Land und alles, was wir erlebt hatten, waren für sie einem Abenteuer gleich und brachten sie nicht nur einmal zum Staunen. Ob sie wieder nach Russland reisen möchten? Ohne Zweifel – ja. Meine Frau würde jetzt gern den Winter in Sibirien kennenlernen. Was ich dazu sage? Ob ich noch einmal nach Russland reisen möchte? Meine Antwort ist wie immer kurz und knapp – Nein.

 

2014

 

Willkommen auch auf meiner Homepage: http://www.rosa-andersrum.de

Mein Blog: https://rosasblog54.com/

Imprint

Text: Rosa Ananitschev
Images: Rosa Ananitschev
Cover: Rosa Ananitschev
Publication Date: 02-02-2014

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