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Ich sehe mir einen Film über ein totes System an, in dem ein seit Kurzem Toter die Hauptrolle spielt.
Auch ich bin gerade erst gestorben und liege am Rande meines Bewusstseins in der Hängematte, die Perfektionen der Totalüberwachung bestaunend. Liege ich doch selbst in einer total überwachten Stadt – man kennt also sein Feind- und Vorbild ganz genau.
Mich übermannt ein Gefühl der Durstigkeit mit gleichzeitiger Einsetzung des Urinierdranges, und ich verlasse meine Höhle der Geistlosigkeit, um all meinen Drängen nachzugeben, sie gewissermaßen sofort zu erfüllen.
Beim Eintritt in den Flur reizt ein nicht gerade olfaktorischer Ästhetik entsprechender Geruch mein den optischen Sinn unterstütztragendes Riechorgan und in mir blüht sofort die Vorstellung eines männlichen Erdbewohners auf, der gerade im Hinterhof des Nachbarhauses seinen Grill auf bestialische Art und Weise malträtiert. Verärgert trotte ich zum Küchenfenster und schließe es, um diesen mistigen Geruch nicht noch weiter in die Wohnung kommen zu lassen.

Ein kosmisches Fernsehquiz:
„Von all den Dingen, die man nicht tun sollte, wenn es irgendwo nach Qualm stinkt - was ist da das Falscheste?“
„Das Fenster zu schließen, Sir!“
„Verdammt richtig.“

Wieder im Flur, auf dem Weg zur „Halle“, wie ich das sich in meiner Wohnung befindliche Bad gern nenne, wedelt plötzlich meine Hand und mein Gehirn begreift, dass sie das wegen plötzlicher Rauchentwicklung tut.
Rauch!
Dieser phänomenale Wichser da im Hinterhof stinkt mir nicht nur alles zu, nein, jetzt raucht er auch noch! Ich stürme in die Halle (wahrlich stürme!) und schaue aus dem Fenster, wer denn da zum Teufel eigentlich Dienstagabend grillt.
Und erblicke nichts.
Keine Menschenseele weit und breit.
Mein Kopf wendet sich langsam nach links.
Erics Zimmer grillt.
...
Oh scheiße.
Ich überhole Speedy Gonzales auf dem Weg zu Eriks Zimmer und lege an der Tür noch schnell Flash-Gordon um, erblicke den Plattenspieler, die Platten – in Flammen!
Es gibt Phasen, in denen ruhiges Überdenken der Situation zu einer schnellen Lösung führen kann. Diese war so eine.
Für mich nicht.
Mein Gehirn verabschiedete sich und alle Götter im Himmel lachten, als ich als Erstes die noch mit einer Pfütze gesegnete Saftpappe in die Hand nahm und damit ins Zimmer eilte.
Nein – selbstverständlich. Das geht nicht.
Ich ließ die Saftpappe fallen, als hätte mich ein Cowboy dazu aufgefordert, rannte in die Küche und ergriff den Wasserkocher
Bessere Wahl, vom rein logischen Standpunkt.
Miese Wahl unter den Umständen.

„Die Siebzig-Milliarden-Space-Dollar-Frage: Was tut man bei einem Brand, der eigentlich noch zu löschen ist, als Erstes?“
„Hmm ... ich nehme 'nen Feuerlöscher und tue es, wenn ich den nicht habe, dann nehm ich einen verfluchten Eimer, fülle ihn mit Wasser und tue es.“
„Sie tun es?“
„Ich tu's.“

Ich tat´s nicht. Sondern rannte zum Fenster, riss es auf und schrie um das, was ich am Bittersten nötig hatte. Ich schrie um Hilfe.
In Reudnitz hört dich keiner schreien.
Auch nicht, wenn du es aus dem Badfenster versuchst.
Aber vielleicht von der Tür aus.
Die Tür! Glänzender Einfall!
Hingerannt.

Ein himmlisches Strafgericht:
„Was können wir ihm jetzt noch antun?“
„Das hat er schon selbst erledigt, er hat vorhin die Tür von innen abgeschlossen, wegen der kaputten Scheibe daran.“
„Dieser Idiot.“

Ich verfluchter Idiot! Panik breitete sich in mir aus. Ich riss die kaputte Scheibe an der Tür auf und schrie in das Scheißtreppenhaus fünfmal um Hilfe.
Mir begegnete höhnische, grauenvolle Stille.
Mein Gehirn klickt sich kurz wieder in die Situation ein und erinnert sich an Eriks Eimer, der irgendwo im Bad stehen muss.
Die letzte Möglichkeit. Ich nehm das blaue Ding, mach es mit einem Viertel Wasser, das auf keinen Fall genug sein konnte, voll und renn zu Eriks Zimmer zurück.
Mir schlägt schwarzer Dampf/Rauch/Qualm entgegen, eklig, es dringt in mich ein, ich lasse den Eimer fallen und flüchte. Zur Tür.
Wieder die Hilferufe. Wieder nichts.
Die Schlüssel!
In meinem Zimmer auf der Couch, hab sie, bin an der Tür, bin im Treppenhaus, renne, rufe. Niemand. Ein scheiß Horrorfilm.
Verflucht!
Zurück in die Wohnung. Ein toter Cobain hängt am Stromzähler, ich halte ihn mir vors Gesicht und renne in Eriks Zimmer.
Dieser Rauch lebte, er war nicht mehr nur Rauch oder Dampf oder Qualm, er war intelligent, böse und gemein. Ich hatte vorher Luft geholt, doch kam nicht mal einen Meter hinein. Das Zeug drang durch meine Poren irgendwie ein, und vorher ein bisschen Luft geschnappt zu haben war nichts dagegen.
Wieder im Treppenhaus, diesmal bis ganz nach unten.
HA! Da brennt Licht, ihr habt euch verraten, es muss jemand da sein! Eine russische Familie mit einem zugeheirateten asozialen Asylehemann, aber nett sind sie.
Er rennt sofort hoch, ruft währenddessen die Polizei an und kommt wenige Augenblicke später zurück.
„Da kann man nischt machen.“, meint er.
„Nein, kann man nicht.“, entgegne ich. Und renne in die kalte Nachtluft hinaus.
Noch keine Feuerwehr zu sehen. Langsame Dreckskerle.
Ruhig, ganz ruhig.
„Erstmal die Nachbarn wecken“, meint der Mann. Wir tun das.
Und plötzlich sind da auch ganz wache Nachbarn da. Wo waren die vorhin, als ich all ihre Gesichter noch gerne gesehen hätte?
Dann endlich kommt die Artillerie.
Polizisten, Antipyros, Krankenwagenfahrer und Nudisten vom Puff gegenüber, die es immer genießen, wenn die Polizei mal nicht wegen ihnen da ist.
Auch wenn wir keine Nachbarn auf dieser Straße haben, plötzlich gibt es viele davon und alle schauen.
Der gute Cop kommt auf mich zugerannt und nimmt all meine Personalien auf und meint, ich müsse gleich ins Krankenhaus. Der böse Cop steht schweigend daneben und schaut grimmig zu den Nutten. Ich frag den guten Cop nach einer Zigarette.
Schon vor Stunden hatte ich verzweifelt meinen Tabak gesucht, während der Nikotinmangel immer mehr zum Problem wurde, das man zwar ignorieren konnte, aber in keinem Falle tolerieren.
Nach all der Aufregung meinte ich jetzt eine Zigarette verdient zu haben. Doch der Cop ist Nichtraucher, wozu ich ihn beglückwünsche, also frage ich den Krankenwagenfahrer, der gerade auf mich zugerannt kommt. Er zeigt mir einen Vogel, eine Zigarette sei nach der Menge an Rauch, die ich geschluckt habe, gar nicht drin.
Man zerrt mich in den Krankenwagen und nun bekomm ich endlich mal die ganze Hintergrundaction mit. Im TV sieht man ja immer nur den Brand. Nicht was danach geschieht.
In meinem Falle werde ich erstmal ausgelacht. Ich sei schwarz wie, wie, ja wie gleich nochmal – Joachim Deutschland.
Ich schenke ihm ein unfreundliches Grinsen, seine Visage ist die des Typs mittelständischer Wichser, kleine Brille, schielende Augen, Dummer-Jungen-Haarschnitt, Stammtischnazi, Haltestellenmacho.
Wiederholt frage ich nach einem Glas Wasser – zum fünften Mal bereits, aber in diesem Krankenwagen gibt es alles, wahrscheinlich auch Heroin, aber nicht mal verdammtes Wasser.
Auch im Krankenhaus kann ich erst einmal Minuten lang darauf warten, neben einer scheißenden alten Neunzigjährigen.

Nachtschicht ...

Alles Azubis und Studenten, Uniklinik. Die Schwester spricht den Arzt immer verstohlen mit „Herr Doktor“ an, und ab und zu legt sich eine Hand auf seine Schulter.
Ihre Masche kommt nicht überall an, meine eindeutig homosexuelle Schwester sagt mehrere Male „Dieses Flittchen.“
Ein eindeutiges Crackopfer mit Atembeschwerden wird eingeliefert. Nach einer halbstündigen Hardcore-Attacke von fünf Ärzten gleichzeitig hinter einem gelben Vorhang kann er wieder lügen.
Ob er jemals Kokain genommen habe, fragt ihn der Arzt.
„Nein“, stöhnt es, und hinterher: „Nur ne Tüte hab ich einmal geraucht.“
So ein Idiot. Man sieht die Einschusslöcher an seinen Armen, die kaputt gecrystalte Nase und alles, aber der Arzt, oder besser „Herr Doktor“, glaubt ihm.
Ich will schreien, dass wohl jeder Idiot sieht, dass der Typ so zu ist wie ein Teilnehmer der Tour-de-France, doch in dem Moment wird mir Blut vom Ohr abgenommen, obwohl schon mein Arm dran glauben musste.

Viele Stunden des Rumliegens, Vollgestunkenwerdens und Angeglotzwerdens später: Man führt mich in ein Zimmer, in dem der Vesuv kurz vor dem Ausbruch steht, und meint, darin solle ich schlafen.
Ich lege mich in düstere, fremde und kalte Umgebung, vorsichtig, denn alles kann passieren. Der Mann neben mir ist noch wach und starrt mich an – durchdringend!
Die Krankenschwester meint, der Gullydeckelgurgler hätte letzte Woche einen Schlaganfall gehabt.
Der Blick des Mannes neben mir sagt, dass er seit letzter Woche nicht mehr geschlafen hat.
Ich verlange eine Schlaftablette, bekomme sie und finde es scheiße, dass mein Bein einschläft.
Plötzlich kommen durch die Tür guter Cop und böser Cop.
Diese Erzengel.
Sie bringen mir mein Handy und meine Schlüssel. Immer noch keine Schuhe, denke ich mir.
Als um fünf Uhr der Vulkan immer noch nicht ausgebrochen ist, gehe ich verärgert zu den Schwestern und meine, so gehe das nicht.
Schwestern sind sonderbare Geschöpfe, hätte ich jetzt die mir verordnete Kranken-Uniform getragen, hätten sie mich wieder zurückgeschickt. Aber ich blieb in schwarz. Sie erschrecken und geben mir sofort ein Einzelbett im Physiotherapieraum. Geht doch.

Der nächste Morgen ...

Plastikbrötchen und Plastikwurst, eingeschweißte Butter und die Akne des männlichen Pflegers.
„Nein danke, keinen Hunger“, meine ich und gehe mit ihm raus auf der Suche nach einem Telefon. Nichts wie weg hier, ich habe mir Blut abnehmen lassen und ihre Medikamente geschluckt, jetzt könnten sie mich doch wohl auch langsam mal gehen lassen.
Ich frage, ob ich bitte einmal telefonieren könnte.
„Unten im Saal ist 'n Münztelefon.“
„Ich hab nicht mal Schuhe an, Lady! Wie zum Teufel soll ich da Geld haben?“
„Dann nehmen Sie Ihr Handy!“
„Wäre da Geld drauf, würde ich Sie doch nicht fragen!“
„Da kann ich Ihnen jetzt auch nicht weiterhelfen.“
Fuck – wieder in das Zimmer.
Der Vulkan ist wach, so wach wie man eben sein kann, wenn ES letzten Dienstag passiert ist.
In seinem Telefon steckt eine Chipkarte.
Ich überlege, schaue zur Tür und gehe dann zu seinem Telefon.
„Kann ich mal 'nen Anruf machen?“
Verständnislos schaut er mich an und nuschelt ein paar Silben, wobei ihm etwas aus dem Mund läuft, das ich als Ja interpretiere.
Es klingelt.
„Hääää?“, meldet sich mein Freund und unregelmäßiger Mitbewohner Björn aus den Armen seiner Freundin.
„Morgen Björn, komm doch bitte zum Bettenhaus und bring Schuhe, Wasser und Zigaretten mit.“
„Larry, was ist passiert, Mann?“
„Das erzähl ich dir dann.“

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Publication Date: 04-02-2009

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Dedication:
dem Feuer

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